19.11.

Nebenbei erlebte ich noch so einiges und noch viel mehr. Dann lag die Zeitdiebin tatenlos, weil unaufgeschlagen herum. Beispielsweise hatte ich mit einer neuen App die Weckfunktion des iPads mit dessen Helligkeitssensor gekoppelt, dergestalt, dass im Augenblick, da meine Augenlider noch geschlossen, die Sonne aber über der Horizontlinie auftauchte, der von mir eingestellte Radiosender, das zweite Programm des Südwestdeutschen Rundfunks, aufgeblendet wird. Ein Sprachprogramm, nur in langen Abständen wird es von angenehmer Musik unterbrochen. So stand also plötzlich eine Stimme im Raum. Es war die tiefe, sehr dunkle und von mir als wärmend empfundene Stimme eines Greises, und die ersten Klangbilder, deren Bedeutung ich begreifen konnte, lauteten »Kakao – ja, Sie haben richtig gehört, meine lieben Hörerinnen und Hörer. Tun Sie sich etwas Gutes und bereiten Sie sich einen Kakao. Aber einen richtigen, den dunklen, bitteren; nicht etwa den sogenannten Plantagentrunk. Im Supermarkt werden Sie den Kakao, von dem schon die Azteken nicht genug bekommen konnten, aber nicht bekommen«. Und immer so weiter.

Das war am Samstagmorgen, dem soundsovielten Todestag von Marcel Proust, der ja wiederum der heißen Schokolade den Vorzug gegeben hatte, wobei es mir dann unklar war, ob es sich dabei um den Kakao der Azteken gehandelt haben wird, oder um Plantagentrunk. Nach einigen Stunden des Blätterns und Suchens in der Suche nach der verlorenen Zeit, hatte ich einige der Stellen gefunden und auf Hinweise hin untersucht. Aber aus keiner einzigen ging das hervor; enttäuschend. Ich war vor allem von mir selbst enttäuscht, dass ich es nicht schon früher hatte herausfinden wollen, so dass ich mir diese Gedanken heute gar nicht mehr erst hätte machen müssen, ganz einfach weil ich es wusste.

Dann ging ich die Straße entlang spazieren, weil ich aus der Zeitung erfahren hatte, dass der König von Saudi-Arabien seinen Botschafter aus Berlin abberufen hatte, wegen den Äußerungen des Deutschen Außenministers Sigmar Gabriel. Das Anwesen des saudi-arabischen Botschafters befindet sich in meiner Nachbarschaft; es ist dies der Mann, der sich im vorvergangenen Sommer einen Schlittenhund angeschafft hatte und im selben Sommer auch noch ein Gewächshaus, in dem er Brennnesseln züchten ließ und Löwenzahn und Rainfarn – für ihn, den Wüstensohn aus dem Morgenland waren all dies die allerdenkbarst exotischen Pflanzen, so wie der Schlittenhund für ihn ein exotisches Tier. Aber keinerlei saudi-arabischer Sperrmüll vor dem Lanzettenzaun. Nicht einmal ein durch flüchtige Packen geplatzter Koffer oder sonst irgendeine Hinterlassenschaft. Möglicherweise war die Familie also noch gar nicht abgereist.

Kaum später schweifte ich aus meiner Lektüre ab ins Internet, um herauszufinden, ob es die Brasserie Mollard am Gare Saint Lazare auch in Wirklichkeit gibt. Es gibt sie, hüben wie drüben. Und im Buchmollard erhält die Obstdiebin von ihrem Vater letzte Instruktionen für ihre Wanderung in die Picardie. Er rät ihr, für Zwischenzeiten zu sorgen, »möglichst viele. Wie habe ich jedesmal aufgeatmet, und ruhiger geatmet, sooft eine dramatische Geschichte unterbrochen wurde mit einem ›in der Zwischenzeit‹. Die Zwischenzeiten, sie stehen in deiner Macht. Dass du sie dir nicht nehmen lässt!«