19.2.

Auf dem Weg ins Café bekam ich gestern früh mit einem Mal supergute Laune. Das geschah schubweise, in einem einzigen Schub übrigens und zwar exakt auf jenem im Grunde unattraktiven Abschnitt der Marienburger Straße, kurz vor dem Postamt, rechts, wo sich dieser Spielplatz befindet mit den Tischtennisplatten. Zunächst dachte ich, es läge an der Musik, SZA, stellte dann aber, durch das Herausnehmen meiner Ohrhörer fest, dass diese Vogelstimmen doch gar nicht auf diesem wunderschönen und an Knistergeräuschen sonst nicht armen Lied festgehalten waren, sondern: die spielten live und, wie es in Stuttgart früher einmal pro Sommer geheißen hatte, Umsonst und Draußen. A propos, durch SZA und Vogelstimmen war ich an einen lustigen Vormittag im Jahr 1994 erinnert worden, in dessen Verlauf eine etwa zwei Meter große Tochter von Frankfurter Demeter-Gemüsehändlern, der Zufallsfund einer Pille Ecstasy, die dort in ihrem Bettpfostenversteck vergessen gelegen hatte, sowie die Stimme von Minnie Riperton wesentliche Rollen gespielt hatten. Tja ja, es war Throwback Thursday und ich ließ die akkumulierte Energie in meinen Handschlag strömen, als ich auf dem Kollwitzplatz auf Tilman Rammstedt stieß. Kurzes, angenehm von hauswirtschaftlichen Themen geprägtes Gespräch. Schreiben heißt ja auch Wirtschaften, wie Peter Handke einst ganz richtig festgestellt hatte; das Licht um uns herum, hier auf der Weite des Platzes besonders schön wahrnehmbar: derweil und binnen Augenblicken an Intensität zunehmend; der Himmel schließlich: wolkenfrei, nicht einmal Streifen, und nach unserer Verabschiedung, da bereits im Gehen, war mir klar: Jetzt kommt der Frühling!!!

Licht, Sounds und auch jener spezielle Duft: frisch irgendwie, spielfreudig. Dazu kam, dass auch noch Andreas Koch Geburtstag hatte, was Kerstin uns verriet, woraufhin gesungen wurde und ich las ihm als Gabe noch einmal sämtliche Briefe an die Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor, die in Bezug auf die rosafarbene Mustafa-Karikatur von Greser+Lenz veröffentlicht worden waren.

Der Tag war also, um noch nicht einmal neun Uhr, bereits als geglückt zu bezeichnen. Doch musste ich nach Marienfelde aufbrechen. Eine Unternehmung, die trotz oder wegen des immer nur noch schöner werdenden Frühlingswetters zu einer schier endlosen Fahrradtour geriet. Irgendwann fragte ich einen der bereits irritierend ländlich gekleideten Passanten, wo hier denn die Hausnummer 71 zu finden sein könnte, da wies er auf ein schräg gegenüber positioniertes Reihenhaus. Wir beide standen indes vor der Giga-Filiale eines Tierfutterdiscounters. Nun bin ich ja, was subversiven Humor anbetrifft, so einiges gewohnt, aber dass die weltgrößte Werbeagentur sich ausgerechnet in einem moosgrünen Reihenhaus kurz vor dem Autobahndreieck verschanzt? Kurz darauf klingelte auch schon mein Telefon. Leider nicht die Muse dran – in Kalifornien war es ja bereits weit nach Mitternacht –, sondern Philipp, mein Mann bei Kemmler Kemmler:

– Wo bist du?

– In Marienfelde. Die Straße gibt es zweimal, anscheinend.

– Genau. Dabei dachte ich, die Postleitzahl könnte dir den Weg weisen. Punktpunktpunkt.

Als wir uns am frühen Abend in der anderen Straße gleichen Namens am Gleisdreieckspark trafen, stellten wir fest, dass ausgerechnet diese Straße einen Glitch bei Google Maps hervorruft. Selbst wenn ich nämlich besagte Straße mitsamt korrekter Postleitzahl eingab, stellte das Programm, während noch die Routenberechnung lief, im Hintergrund bereits wieder auf Marienfelde um. Vermutlich steckte Marcus Johst dahinter, der von einem Konkurrenten der Agentur Kemmler Kemmler beauftragt worden war, Google Maps dementsprechend hacken zu lassen. Marcus Johst betreibt ja die einzige mir bekannte Agentur für Anti-PR.

Wenn jetzt noch bald, dachte ich in der U-Bahn, die Sonne erst nach 20 Uhr untergehen wird, ist alles gut.

Gleich neben dem Apple Store auf dem Kurfürstendamm befindet sich ein Hotel, das heißt Hotel California. Dieser Zusammenhang war mir bislang noch nie aufgefallen, ich nahm ihn für zeichenhaft und betrat den Store. Die Frage lautet ja schon seit Monaten: Laptop oder iPad Pro? Ich fand das Schreiben auf dem iPad immer total angenehm. In einem Birger-Sellin-Sinne befreiend geradezu. Und das iPad Pro ist so schön groß und wiegt dabei nicht viel mehr als mein erstes. Plus: Dazu gibt es einen magischen Stift, den man besser nicht verlieren sollte, weil er teuer ist, aber das mit der Fingerfarbenmalerei muss halt auch mal endlich aufhören. Und außerdem ist mir dieser neue Laptop viel zu klein! Angeblich ist ja sein Bildschirm so großartig, aber der Bildschirm interessiert mich gar nicht so sehr.

Entscheiden kann ich mich trotzdem nicht. Vermutlich aber am Samstag vielleicht.

Interessanterweise, also vor allem halt für mich interessant, bin ich der einzige Gast auf der Buchvorstellung von Sven Hillenkamp. Was aber, darüber klärt mich der Mann vom Catering auf, daran liegt, dass ich eine Stunde zu früh erschienen bin. Und zwar nicht irgendwo, sondern in den sogenannten Räumlichkeiten der Redaktion des Merkur. Ja: Wahnsinn. Die gibt es nämlich wirklich, diese Räumlichkeiten. Hätte ich nicht gedacht. Vor allem hätte ich nie gedacht: in Berlin. Und es schaut dort genau so aus, wie ich mir die Redaktionsräumlichkeiten des Merkur nicht vorgestellt hatte: irgendwie schmuddelig und lieblos unaufgeräumt. In einem Zimmer liegt ein brauner Flokati. Zum Glück gibt es aber keine Salzstangen, denn die Krümel von Salzstangen kriegt man aus einem Flokati selbst mit einem Staubsauger auf Stufe elf mit abgemachter Schnute nicht mehr heraus. Die muss man dann einzeln herauskämmen, am besten mit einem Hundekamm, der hat die idealen Zinken (weil Flokatiteppiche nämlich eigentlich, also die Originalflokatis in Braun, von denen einer in diesem Charlottenburger Balkonzimmer liegt, nach Art eines indischen Dhurries aus Hundehaar gesponnen sind; oder geknüpft, wie es in der Perückenmachersprache heißt, wobei gesponnen die Natur des Produktes besser träfe, wo doch Zuckerwatte und Flokati benachbart stehen im Periodensystem der Widerspenstigkeiten).

Nach zwei Gläsern eines ausgezeichneten Merlots trifft aber endlich Tom Kraushaar ein, der Verleger selbst und begrüßt mich, sowie ein reizendes Paar mittlerweile pensionierter Kulturjournalisten aus München, wo ich den Merkur ja auch ansässig wähnte. Es geht dann bald schon um den Abriss sämtlicher Filialen der Supermarktkette Kaiser’s, deren Pachtverträge vom Berliner Senat in einer handstreichartigen Aktion gekündigt wurden, um die attraktiven Standorte nach Abriss der im Grunde hässlichen Pavillons, in denen die Kaiser’s-Märkte nun die längste Zeit untergebracht waren, für den asozialen Wohnungsbau zu nutzen. Ein paar Meter von der Merkur-Redaktion entfernt, baut auf eben einem solchen Grundstück Daniel Libeskind eine saudisch anmutende Perlmuttspirale aus siebenundvierzig Penthouse-Eigentumslofts; am Teutoburger Platz beim Souterrain um die Ecke, wo ich wohne, bauen die von allen gleichsam gehassten, trotzdem leider erfolgreichen Graft Architekten um Wolfram Putz einen Megakomplex aus familienfreundlichen Single-Etagen. Stimmt: Die haben auch mal etwas für Brad Pitt entworfen.

Weiterhin geht es um Hühner mit gekürzten Schnäbeln, also ob das wirklich schöner ist fürs Federvieh, beziehungsweise: woran sich denn feststellen ließe, ob ein Huhn glücklich ist oder nicht. Mir liegt es beinahe schon auf der Zunge, Giorgio Agamben anzuführen, da trifft der Autor ein. Und die Lesung aus dem Buch »Negative Moderne« fängt endlich an.