19.6.

Es war die Zeit der Bougainvilleenblüte. Schon als die Maschine sich in die Landeschleife über das weit in die Wellen hinausgebaute Rollfeld von Nizza legte, schauten wir aus dem Kabinenfensterchen die vielen weißen Segel, von Schäumen umkränzt. Die Soldatinnen trugen Sonnenbrillen zur scharf geschnittenen Uniform, eine Hand lässig über dem Holm des umgehängten Sturmgewehres präsentiert, es war Wahltag, und angesichts der an den Bäumen reifenden Orangen, der zig Meter hohe Blütenstände treibenden Americana und den in jedes Armaturenbrett eines Omnibusses eingebauten Alcometer, ohne deren Betätigung pustenderweise sich kein öffentlicher Bus starten ließ, erschien es einfach unvorstellbar und beinahe unmöglich, dass auch die Côte d’Azur bald schon so handeln, aber vor allem auch denken wollen würde wie ein Start-up. 

Gut, seitdem die Eigentümer der Petit Bar derart oft gewechselt hatten, schien nun eine Phase der Konsolidierung eingetreten, indem nämlich die allerdubiosesten Stammgäste selbst dort den Betrieb übernommen hatten. Insbesondere Marcel, der, sobald es einem gelungen war, ihn zum Lächeln zu bringen, eine seltene südfranzösische Variante des sogenannten Grills, eine silbern glänzende Leiste aus Gussstahl, entblößte, die bei ihm sämtliche Zähne des Oberkiefers ersetzt, wie ähnlich, aber dann doch wieder anders auch jener Neuzugang, der, mit glatt rasiertem Schädel und einigen im Elendsknast von Les Baumettes ihm zugefügten Tätowierungen, an den Roger Chapman der mittleren Werkphase erinnerte: Sie schienen beide a priori zunächst dazu geeignet, etwaige Neuzugänge zu der ausgehärteten Gemeinde der Stammgäste abzuschrecken; kaum aber hatten wir dort Platz genommen, um das klandestine Treiben zu studieren, stellten wir bald schon mit Erleichterung fest, dass auch die neue Petit Bar noch ganz die alte geblieben war.

Das Konservierende, das die südfranzösische Lebensqualität vermittels ihrer Waffen des Lichts, des Rosés, der Molkereiprodukte und des Brotes bis tief in die zu integrierenden Teile der Gesellschaft versprüht, lässt sich kaum je irgendwo besser studieren, als aus einem Korbstuhl vor der Petit Bar heraus: ob Muselman, ob kohlrabenschwarzer Fidget-Spinner-Verkäufer, ob als als Veteran in Ehren gehaltener Greis, ob mit dem Vollbart geschmückter Brillenträger: Keiner kommt am Geschäft der Bäckersfrau vorbei, ohne sich von ihr ein Baguette unter den Arm klemmen zu lassen.  

Als wir, zu Hause eingetroffen, dort zum ersten Mal die Läden aufgestoßen hatten, um die Sonne nun auch dorthin einzuladen, saß auf dem Nachbarsfirst eine weiße Taube. Die war mir unbekannt, die hatte ich in all den Jahren hier noch nie zu Gesicht bekommen. Ein wunderschönes Tier, zierlich, mit appetitlich leuchtendem Gefieder. Wie ein leeres Blatt.