20.11.

Wenn dann mal erst Geruchstwitter erfunden ist. (Vor gut zwölf Jahren hatte ich mal einen Gedankenaustausch mit einem Geschäftsmann, Ex-Werber, aus, ich glaube, Dänemark, der sah sich damals knapp davor, etwas ganz ähnliches entwickelt haben zu wollen. Ein Nachfahre von John Waters gewissermaßen, der ja mit dem Odorama schon viel früher etwas in dieser Richtung unternommen hatte. Der Däne wiederum, angeblich wurde er für seine Forschungen von American Express bezahlt und von Singapore Airlines, die ja einst die ersten von den Fluggesellschafte waren, die ihre, die angeblich besten First-Class-Abteile der Welt mit einem signature smell beduftet hatten (der Stefan Floridian Waters hieß), verschwand so rasch und spurlos wieder aus meinem Leben, wie er gekommen war – ganz passend freilich für einen Mann der Düfte; unter Parfumfreunden hieße es, er konnte nur eine kurze Sillage sein Eigen nennen. Wohingegen John Waters Punktpunktpunkt.)

Beim ersten Gang zum Supermarkt seit meiner Ankunft fand ich, halb verdeckt von feuchtem Laub, ein Taschentuch mit Monogramm und blauen Doppellinien auf ansonsten weißem Grund. Weiß auch nicht, weshalb mich das dann traurig stimmte. Also der Gedanke an die Person, der dieses Taschentuch nun fehlt. Mitnichten ist es so, dass bizarre Fundstücke am Wegesrand mir unbekannt sind. Einmal, ich glaube es war auf dem Weg zu einem Geburtstag von Holm Friebe, da sammelte ich in einer Tüte aus transparentem Kunststoff einfach alles ein, was am Rande meines Weges dorthin den Tag über liegen geblieben war. Mit Haarsgummis und einzelnen Handschuhen könnte ich eh einen schwunghaften Handel betreiben, ich wäre vermutlich schon lange Millionär, wenn es einen Markt für Haargummis und einzelne Handschuhe gäbe (und vielleicht gibt es den auch, aber ich habe es noch nicht einmal ausprobiert; ohne leider), aber an jenem, sozusagen willkürlich ausgewählten Tag fand ich dort halt auch einzelne Schuhe, zerbrochene Kreditkarten und weggeworfene Akkus von Mobiltelefonen. Brillenbügel, auch halbe Brillen. Nahrungsmittel, klar, aber die zählten ja nicht. Ich war noch nicht angekommen, da musste ich aufhören mit aufsammeln, denn die Tüte war voll (und weil es eine transparente Tüte war, sah mein Geschenk wirklich eindrucksvoll aus. So ein bisschen Mike Kelley, auf gar keinen Fall wie Müll, auf jeden Fall wie Kunst). Auf der Kurfürstenstraße – nicht zu verwechseln mit dem sogenannten Ku’damm – machte ich im Sommer ein Foto von einem Höschen, einem Schuh und einem Lippenstift. Aus dem Ensemble sprach eine Art Drama, andererseits auch kein wirklich unerhörtes, denn dort blüht ja der Kinderstrich. Das weggeworfene Taschentuch aber war besonders. Vermutlich, weil ich gar niemanden mehr kenne, der noch Stofftaschentücher benutzt. Und wer das tat, so stellte ich mir vor, der würde seine Taschentücher auch monogrammieren lassen (oder monogrammierte geschenkt bekommen von jemandem, der diese Person so gut kannte, dass es ihnen beiden eine Freude war). Damit war dann aber auch klar, dass dieses Taschentuch vermisst werden würde. Und in der Hoffnung, dass es etwas bringen würde, hängte ich das vom Regen durchweichte Taschentuch relativ gut sichtbar an einen nahegelegenen Zaun.

Zeichenhafterweise fiel es mir erst in dem Zug auf dem Weg zur geplatzten Kuh auf, dass ich meinen Füller bei meinen Eltern hatte liegengelassen. Zeichenhaft, weil ich alles mögliche liegenlasse, verlege oder vergesse, aber den Füller doch nie. Mein Vater behauptet momentan zwar noch, dass der Füller nicht aufzufinden sei bei ihnen, aber ich weiß, dass dem nicht so ist. Weil meine Mutter an dem Abend nach dem Besuch im Hirschen zu Heimsheim, um dessen Feder auszuprobieren, mit diesem Füller in mein Notizbuch geschrieben hatte: »Heute ist Mittwoch« (von mir aus hätte es auch ein Herz werden dürfen, das sie dort hineinmalte, aber so ist sie nun mal). Und danach haben weder ich noch ich mit dem Füller das Haus verlassen. Also sagte ich, dass sie sich keine Sorgen des Füllers wegen zu machen brauchten. Und bitte erst recht auch nicht schicken, so er wieder auftaucht, denn es gab in diesem Jahr schon genügend Hustle mit DHL. Da war ich dann von mir selbst verblüfft, mit welcher Leichtigkeit im Sinn ich einen erneuten Besuch bei den Eltern versprochen hatte. Um den Füller persönlich entgegenzunehmen. Im Hintergrund aber webte darin die Versöhnung mit ihnen, den Eltern und mit diesem Ort, Heimerdingen, wo ich aufwachsen musste und dem ich vor vielen Jahren regelrecht und faktisch entflohen war. Lange Zeit, es sind Jahrzehnte geworden, hatte ich behauptet, ich sei vom Landleben derart traumatisiert, dass ich schon beim Anblick gelber Ortsschilder wahnsinnig würde. Bei sogenanntem Lichte betrachtet, lebe ich seit Anfang des Jahres nun selber dort. Und das so gut und so glücklich wie noch nie zuvor. Was ich bei meinem Besuch dort herausgefunden habe: mich stören weder die Landschaft noch sind es die Tiere und auch nicht das Kirchengeläut, es ist die Enge. Die ist nun mal aufgrund der hohen Grundstückspreise (die wiederum vom Baden-Württembergischen Erbrecht verursacht wurden) besonders, nun ja: eng dort unten. Man sitzt dort halt immer schon halb im Haus des Nachbarn »wie auf dem Präsentierteller« und (Zitat Arno Schmidt) »beobachtet, wie auch ihr beobachtet werdet«. Drum lautete ein güldener Ratspruch meiner Mutter aus Kindertagen: Familie und Verwandschaft werden besser, wohnt man möglichst weit weg. Was ich beherzigte und meine ersten neun Jahre in Hamburg verbrachte. Damals, noch vor dem ICE, dauerte eine Heimfahrt mit dem sogenannten D-Zug satte zwölf Stunden. Kann aus heutiger Sicht nicht sagen, dass es unserer Familie tatsächlich gut getan hätte. Aber, und diesen goldenen Ratspruch verdanke ich der Mutter Holm Friebes, Inge, die Douglas Coupland gechannelt hatte, damals auf dem Sommerfest des LCB 2010: All Families Are Psychotic. Von daher ist das mit der Heilung durch Abstand halt bloß ein frommer Wunsch.

Kaum angekommen, saß ich am Telefon und hörte mir Tabassoms Leidensgeschichte an. Sie litt an der Liebe, es hatte sich nichts verändert. Ich fummelte an meinem Ersatzfüller herum, ich machte mir zwei Kaffee, ich knusperte mehrere Brote und rührte den Teig für den sonntäglichen Schokoladenkuchen an. Wenn man sich so lange kennt, telefonisch, darf man auch mal kurz einschlafen, wahrscheinlich sogar Zahnseide benutzen, Zahnseide kaufen gehen, falls keine mehr im sogenannten Haus ist, und es wird sich nichts ändern. Irgendwann stieß ich einen persischen Fluch aus – eben diesen einzigen Fluch, den ich kenne, und der angeblich so stark wirkt, dass er vom Lektor bei Kiepenheuer & Witsch aus dem Manuskript von Untitled getilgt wurde, weil man dort die Fatwa fürchtete. Und Tabassom sagte, dass sie jetzt ihr iPhone ausräuchern und neu weihen lassen müsste aufgrund meiner Flucherei. Draußen huschte ein Eichhörnchen durch die nicht mehr existenten Büsche wie eine im Schnellvorlauf abgespulte Raupe. Landleben: What’s not to like?

Meine Eltern haben zwei Autos für zwei Personen. Weil einer von beiden immer im Auto sitzt, um irgendwas zu besorgen. In Heimerdingen gab es mal zwei Friseure, zwei Bäckereien, ein Postamt, einen Blumenladen, zwei Banken, eine Metzgerei, eine Drogerie, einen Rewe und einen kleinen Supermarkt. Eine Grundschule, einen evangelischen Kindergarten, einen katholischen und zwei Kirchen (dito). Es gab sogar einen Schuhmacher, eine Bücherei und ein Autohaus. Die zwei Kirchen gibt es noch. Und einen Netto mit Backshop. Und eine Apotheke, die gute Geschäfte macht. Auf dem Land leben meine Eltern heute so, wie ich 1996 in Ostberlin, als ich zum KaDeWe fahren musste, wenn ich einen cremefarbenen Briefumschlag wollte. Und hier in der Stadt, insbesondere in Ostberlin lebt es sich heute wie einst auf dem Land. Wie in Heimerdingen, wo man alles zu Fuß erledigen konnte, wo jeder jeden beobachtet, wie auch er beobachtet wird.

Strange isn’t it, wie Omar Khayyam zu sagen pflegte. Aber vielleicht gar nicht mal so sehr verwunderlich. Als ich mit Gunnar neulich beim Mittagessen Narbenquartett gespielt habe, sagte er: »Aus Verlegersicht ist das interessant« (allerdings halt schwer zu finanzieren). Es schreibt ja niemand mehr irgendwas auf.

Also: Was wollen die Leute? Die Leute wollen ganz wenig. Vermutlich sind es zudem ganz einfache Dinge. Dass es nach frisch gebackenem Schokoladenkuchen duftet, wenn sie nach Hause kommen. Und dass es jemanden gibt, der Schokoladenkuchen gebacken hat, wenn sie nach Hause kommen eventuell. Im Jahr 2000, jenem Jahr, das uns allen damals als Ankunft der Zukunft versprochen worden war (Captain Future, Laserstrahlen bspw.), war es, damals wohnte ich kurz mal in München, en vogue, die Wohnung mit einem Spray zu parfumieren, das von der Einrichtungsmarke Laura Ashley verkauft wurde. Das roch nach frisch gebackenem Pflaumenkuchen. Und alle liebten diesen Spraygeruch. Sogar Niklas Maak (wir redeten damals nahezu pausenlos über dieses Spray, kurz darauf gab es allerdings die Sonntagszeitung und ich und auch Niklas Maak zogen um nach Berlin; Laura Ashley ist mittlerweile in Vergessenheit geraten. Wie so manches. Wie so viel!).

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