20.11.2019

Nach dem Frühstück (Brötchen, Wurst, Flocken) Erkundungsgang in die Ortsmitte. Zwei Bäckereien (eine davon, Möller, mit Konditorei und Café), ein Drogeriemarkt («Rossmann»), eine Handlung für Hundehalterbedarf, ein Eiscafé, ein Schreibwarenhandel, eine Eisenwarenhandlung, die nahtlos in ein Spielwarengeschäft übergeht, das wiederum in einem Nebenraum auch Haushaltswaren führt. Ein sogenannter Textilwarenladen, der in seinen Verkaufsräumlichkeiten eine Filiale der Post inklusive Postbank beherbergt. Ein Restaurant «Posthaus», das thailändische und deutsche Spezialitäten auf der Karte hat. Ein Kebap- und Pizzaspezialitätenrestaurant. Gerade so, als ob der Platz hier knapp wäre; dass alles so zusammenrücken muss. Aber ringsum Weilmünster ist noch reichlich Landschaft übrig, sie bietet sich regelrecht dar.

Normale Zeitungen gibt es hier nicht. Bloss das «Weilburger Tageblatt» und die Bildzeitung «Bild», die heute vorne drauf in schwarz auf gelb mal wieder so tut, als ob. Im Tageblatt hingegen wird das Attentat auf Dr. Weizsäcker im Vemischten kurz gemeldet. Darunter die sagenhafte Geschichte von der Höllenfahrt zweier Russen: «Nach dem Bruch einer Fernwasserleitung in Russland ist ein Auto mit zwei Männern in ein Loch mit kochendem Heizungswasser gestürzt. Die beiden Insassen seien dabei ums Leben gekommen, teilte die Polizei mit. Ihr Wagen stand auf einem Parkplatz in der Stadt Pensa etwa 550 Kilometer südöstlich von Moskau, als plötzlich der Asphalt direkt darunter zusammenbrach.»

Weil wir gestern gut gearbeitet hatten, bekam ich heute am frühen Nachmittag schon frei und ging den Weg zum Ortsausgang bergan, bis keine Häuser mehr nachrückten. Hinter der letzten Kurve kam dort Schritt um Schritt ein Wald empor, als wüchse er gerade jetzt erst aus der Wiesen Grund. Rechts unten war ein Steinbruch, und mein Weg führte erst daran vorbei, dann ging es woanders tief hinunter. Schiefer ragte stapelweise aus der Böschung, viel Moos. Der Weg war auf eine raffinierte Weise geführt, er wusste mich zu halten. Immer wenn ich den nächsten Hügelkamm erreicht, die nächste Kurve durchschritten hatte, entfaltete sich vor mir schon wieder ein mich neugierig machendes Bild, in das ich eintreten wollte. So ging es voran, bis ich nach so vielen Feldern und Wiesen und Hochsitzruinen vorläufig angekommen schien an einer Weide am Abhang, an dem Jungbullen grasten, mit schwarz gekräuseltem Persianerfell und dicken Hörnern. Die Augen seltsam glotzend, wie aus schwarzem Glas. Zurück über den Weg durch das Weiltal (auch hier viel Schiefer; vermutlich wird in dem Steinbruch auch Schiefer abgebaut). Im Ort dann natürlich sofort ins Café Möller. Es war ja Kaffeestunde. Bis auf einen Tisch, meinen, waren alle anderen schon besetzt. Nebenan eine Runde eleganter Damen, in deren Mitte nur ein einziger Mann. Die anderen waren wohl schon weggestorben. Dementsprechend war er nun als Stellvertreter in Personalunion für sämtliche Witwen zuständig geworden, hatte beispielsweise deren Anstandsreste aufzuessen. Die Stückchen schob man ihm auf den Tellerchen samt beiliegenden Kuchengabeln zu. Und er, heroisch. Machte auch den einen oder anderen Scherz, neckisch. Schön abwechselnd bei der einen, währendessen die anderen ihm dabei zuschauten. Wohlgefällig. Wahrscheinlich nennen sie ihn für sich so, weil er sich einst im Scherz als solcher bezeichnet: Last of the mohicans. Damals waren die anderen Männer aber noch am Leben gewesen.

Ich könnte hier gut mal eine Zeit lang verbringen. Ein Buch schreiben, über das Leben in einer westlichen Provinz. Interessiert wahrscheinlich niemanden. Der sogenannt abgehängte Osten hingegen noch immer und sehr.