20.5.

Eine Spezialwetterlage hatte Deutschland in den letzten Tagen in zwei Klimazonen geteilt. Erst war es im Westen schöner als im Osten, dann im Osten schöner als im Westen. Gestern war der Unterschied dann besonders krass angeblich: Regen und Stürme im einen Teil, der Himmel über Berlin erschien schon beinahe grau vor lauter Licht bei über 30° Grad.

Spät am Abend ließ ich die Erschöpften zurück und stieg am Nikolassee aus der Bahn. Schon die Fahrt über hatte ich an vergnügliche Dinge gedacht, vor allem doch an diese Schnecke namens Jeremy, die nun als Shellebrity Snail angeredet werden will, beziehungsweise angetwittert, denn sie besitzt einen eigenen Account. Wenn das alle Schnecken so hielten, würde die Welt wohl kaum zu einem besseren Ort, auch Twitter nicht, aber zu einem anderen – so wie man ja Personen, die sich im Gesicht plastisch haben operieren lassen, nicht wirklich attestieren wollte, dass sie nun jünger aussehen. Aber anders, das schon. Ganz eindeutig sogar sehen sie anders aus. Irgendwie.

Na ja und Shellebrity Snail, die Schnecke, die einst noch Jeremy genannt wurde, bevor der Guardian, bevor Le Monde und die Frankfurter Allgemeine Zeitung über sie berichtet haben, das zweihäusige Wesen mit dem falsch herum gedrehten Häuschen aus Kalk auf dem Rücken (es gibt davon nur sehr wenige; Missbildung sollte man es aber nicht nennen!) twittert ja nicht selbst, versteht sich, sondern der Wissenschaftler, der diese einsamste Schnecke unserer Tage erforscht.

Gerade als ich mir überlegte, ob ich das so schreiben könnte, dass Schnecken an sich ja wie gemacht sind für die Bedienung eines Touch Displays, beziehungsweise war es ja umgekehrt, stand ich an der vertrauten Biegung des kleinen Waldweges, der auf das Strandbad zu führte und ich spürte, dass etwas Schlimmes geschehen war. Gespür in einem animalischen Sinne. Wie Tiere, die unruhig werden auf der Weide kurz vor dem Eintritt der Sonnenfinsternis.

Dann, nach den beiden Langnese-Schildern konnte ich es zuerst sehen, dann riechen: Der Easy Rider war abgebrannt.

Das musste sich vor wenigen Tagen zugetragen haben. Ich war ewig schon nicht mehr dort gewesen, weil es in diesem Jahr mit dem guten Wetter so lange gedauert hatte. Die Außenwände standen noch so einigermaßen. Aber alles, was einst noch rot oder gelb lackiert gewesen, war jetzt schwarz. Nicht kohlrabenschwarz, kein bisschen mehr Glanz, holzkohlenschwarz. Paul-McCarthy-schwarz. Vorbeischwarz.

Andreas, der Wirt, nicht da. Hinter dem Kohlenkasten (auf dem schwarzen Dach stand ein Liegestuhl, der Plastikkürbis auf dem Schornstein zwar rußig, aber auch noch orange) ein Paar, die Ruine untersuchend. Wie es bei Peter Handke heißt: »Kalt wie auf einer Brandstätte«. Unaufhörlich strömen die vom Strandbad Heimkehrenden an der Brandstätte vorbei. Einer, die Sonnenbrille schief über der Nase, deutet mit dem Finger auf die Brandstätte und schreit: »So eine Scheiße!«

Wohl wahr. Dann lange nichts.

Traurig, dass ich mir nicht einmal die Telefonnummer von Andreas aufgeschrieben hatte. Irgendwann im letzten Sommer, als wir uns mehrmals in der Woche gesehen hatten. Er hat mir die alten Zeitungen aus der Sammlung seines Vaters geschenkt, wir haben gemeinsam den Raub des Buddhas erlebt, es gab die Sache mit der englischen Querflöte. Im vergangenen April, der um einiges wärmer und trockener gewesen war, hatte ihm eine Familie ein Übernahmeangebot für den Kiosk gemacht. Ablöse 150.000 Euro. Andreas hat abgelehnt. Weil er mit dem Kiosk, mit dem Verkauf von Speisen und Getränken in den wenigen warmen Monaten genug Geld machen konnte, um damit seine immerhin vierköpfige Familie zu erhalten. Am einzig schönen Tag im April dieses Jahres hatten wir kurz gesprochen, da hatte er gerade den Pachtvertrag für einen kleinen Garten unterschrieben. Die Wurstqualität war übrigens 1A. Die Speisekarte, die wir zu Beginn des Sommers 2016 zum ersten Mal in der jahrzehntelangen Geschichte des Hauses Easy Rider in zwei Sprachen abgefasst hatten, war bis auf die unvermeidliche Novität Süßkartoffelfritten erfreulich konservativ. Die Übernehmerfamilie hatte Expansionspläne hinsichtlich Grillhähnchenstation, Döner und freistehendem Pizzaofen neapolitanischer Bauweise. Andreas hatte einmal, im Überschwang seiner gastronomischen Ambitionen, mit einem Lavasteingrill experimentiert. Kostete damals noch über eintausend Euro in der Anschaffung. Gibt es mittlerweile bei Tchibo. Die Steaks wollte aber damals schon kein Mensch.

Die Stammkundschaft des Easy Rider, zu denen ich mich auch nach dem intensiv dort verbrachten Sommer 2016 nicht zählen will, setzt sich freilich zusammen aus greis’ gewordenen Motorradrockern aus der first wave der Hell’s Angels, dem örtlichen Bestatter, der sich aber zur Ruhe gesetzt hatte, dem pensionierten Polizeiwachtmeister, einem irren Schwätzer, der auf einem winzigen Telefon herumtippt und recht viele Telefonnummern auf einem laminierten oder vakuumierten Din-A4-Blatt mit sich führt, einigen Ehefrauen, die zwar eindeutig zuordenbar waren, jedoch mit ebenfalls blass bleibenden Ehemännern auftauchten, von denen ab und an einer auch wegblieb, weil er entweder operiert werden musste, oder verstorben war. Der Easy Rider war zur Hälfte immer auch ein Speisesaal auf dem sich verjüngenden Vorhof zum Pflegeheim. Und dazu reichlich sogenannte Laufkundschaft, die entweder zum Strandbad hinstrebten (noch nüchtern, zumindest so einigermaßen), oder vom Strandbad weg (voll).

Andreas, Held, Koch, Konditor ja eigentlich, Buddhist (angeblich, aber ich habe ihn gleich bei unserem ersten Gespräch widerlegt; er nahms gelassen – also doch!), großer Sänger, ein Fels. Na gut, es reicht jetzt. Er wird es überlebt haben. Von daher soll es keine Grabrede werden. Bis bald.

Zu Hause war es still und bald dunkel. Applaudierende im Nachbargarten. Dann kam der Sturm.