20.8.

Es fing schon traumhaft an. Unter sommerlichem Himmel hingen vereinzelt flaumweiße Batzen, es war auch warm, aber nicht zu warm, und am Fußgängerüberweg belauschte ich zwei Anwohner, die, das war an dem mitgeführten Rollkoffer des dritten abzulesen, ihren Hausgast zum Bahnhof geleiteten. »Schönes Wetter«, fing der einen Satz an, um die Stille zwischen den in loser Folge vorüberfahrenden Autos zu überbrücken. Die Gastgeber bestätigten seinen Eindruck aus ihrer Perspektive. Woraufhin er seinen Gedanken abschließend behauptete, dies schöne Wetter mitgebracht zu haben. Was freilich geflunkert war, denn Wetter lässt sich nun mal nicht transportieren; schon gar nicht in einem Rollkoffer, denn dazu, aber selbst das ist ein menschlicher Trugschluß, ist Wetter an sich viel zu groß.

Wenn man mit anderen Menschen zusammen Tiere beobachtet, macht man dabei vor allem Beobachtungen der anderen Menschen. Jedenfalls schien mir da so, als ich einige Zeit später unter demselben Himmel, aber um etliche Meter erhöht auf dem Dach des Museums für Moderne Kunst angelangt war, wo der Einflug der siegreichen Bienen erwartet wurde. Vom nahen Dom und etlichen anderen Kirchen her wurde das Zwölfuhrläuten herangeweht. Ja, es war doch ein weitaus windigeres Wetter als gedacht. Und es würde mit zunehmender Höhe sich als noch windiger erweisen. In Sichtweite, aber auf Luftlinie tatsächlich 600 Meter weit entfernt, ragte das sogenannte Jumeira-Hotel auf. Von dessen Dach aus würden die Bienen in den Luftraum entlassen. Auf unserer Seite waren sechs Bienenstöcke aufgestellt, deren Deckel jeweils mit den Herkunftsflaggen der wettstreitenden Imker beklebt worden waren. Es waren angetreten die Imker und Imkerinnen aus Frankfurt, Berlin, Polen, Großbritannien und Bulgarien. Der Bulgare indes war der einzige, dem man seinen Beruf auch auf der Gass‘ drunten hätte ansehen können: ein malerischer Typ mit langem, krausem Bart, Pluderhosen und dazu oben in einer reich verzierten Bluse aus weißem Batist - es handelte sich also um eine von ihrem Schnitt her mit jener in der Modegeschichte legendär gewordenen bulgarischen Bauernbluse vergleichbaren, die einst im Jahr 2001 von Tom Ford für Yves Saint Laurent entworfen worden war, und von der, so geht die Legende, am 11. September in den Boutiquen von Yves Saint Laurent in Manhattan hartnäckigerweise Exemplare nachgefragt worden waren, während in Downtown zur gleichen Zeit das Gebäude des World Trade Center brannte und schließlich auch kollabierte, während also mehr als 3000 Menschen starben, hegten nicht wenige ihrer Artgenossen zur selben Zeit unter demselben Himmel ihre gar nicht mal insgeheimen Blusenwünsche.

Am Bienenstock des Polen war indes eine interessante Situation zu beobachten, die von den ebenfalls auf dem Dach anwesenden Fotografen und Kameraleuten dokumentiert wurde: Wespen, als Einzelkämpfer unterwegs, versuchten, in den Stock einzudringen. Rasch solidarisierten sich die Bienen - wie sie untereinander kommunizieren, bleibt rätselhaft; es ist außer ihrem eher gleichförmigen Summen nichts zu vernehmen - und bildeten einen wehrhaften Klumpen vor dem Eingangsschlitz. Von nahem betrachtet, konnte ich erkennen, dass die Bienen die herankrabbelnde Wespe wie mit Faustschlägen ihrer vorderen zwei Beine (sie haben insgesamt sechs!) schlugen. Stechen tun die dazu bekanntlich fähigen Insekten einander nämlich nicht. Schafft es die Wespe trotzdem irgendwie, in den Stock einzudringen, wird sie dort blitzhaft von zig Bienen umhüllt und unschädlich gemacht. Das erläuterte mir der Bulgare, der als einziger seiner Kollegen keinen Kopfschleier aufgesetzt hatte. Vermutlich schützte ihn sein ausladender Bart vor der Stichgefahr durch umherfliegende Bienen. Die Wespe wird im Etui aus Bienen übrigens gargedünstet, in dem die Bienen mit ultraschnellen Flügelbewegungen einen Hitzestau erzeugen. Erst wenn die Wespe in ihrer Mitte keine Lebenszeichen mehr von sich gibt, löst sich die kollektive Umklammerung. Die Bienen gehen zum Tagesgeschäft über.

Den Himmel zwischen dem Dach, auf dem die heimischen Stöcke aufgestellt waren, und dem Dach des 600 Meter entfernten Hotels in der Frankfurter Innenstadt sah ich nun mit anderen Augen. Für ein Lebewesen, kleiner als mein Daumennagel, waren 600 Meter quer durch den freien Luftraum ein gefahrvoller Weg. Vögel kreisten. Mit Sicherheit sagten die zu einem heransummenden Snack nicht nein. Der Frankfurter Imker sagte mir, dass er seine Bienen vor dem Abtransport auf das Hoteldach noch gefüttert hatte, damit die auf dem Weg nach Hause nicht doch noch in die Kleinmarkthalle zum Blumenhändler abschweifen, sondern auf direktem Weg, ohne Kneipe sozusagen, zu ihm zurück fliegen. Die Siegerbiene, natürlich die des Frankfurters, brauchte dann tatsächlich bloß eine Minute und zehn Sekunden für die 600 Meter. Ich war in der Schule immer sehr schlecht bei den Textaufgaben, und so dauerte es auch beinahe so lang, wie mein Heimweg von 4,4 Kilometern, für den ich anderthalb Stunden brauchte, bis ich ausgerechnet hatte, dass die Frankfurter Siegerbiene - die Imker geben ihren Bienen keine Namen, da sind sie anders als andere Bauern, die ihre Milchkühe, aber nun gut - auf über 60 km/h beschleunigt hatte.

Ich ging zu Fuß. Denn plötzlich war überall Polizei aufgetaucht, auf Motorrädern und in langsam heranrollenden Mannschaftswägen, aus deren Kühlergittern sie es blau blitzen ließen. Keine Straßenbahn fuhr mehr. Ich verschluckte mich an einer Zwetschge. Man denkt ja andauernd an Terror. Mir ging aber auch die Bluse des Bulgaren nicht aus dem Sinn. Die bulgarischen Bienen waren übrigens als letzte eingetroffen. Wahrscheinlich, ich dachte an den Fleiß der Mume, hingen einige von ihnen noch in der Kleinmarkthalle fest (oder im Bodensatz eines gerippten Glases, das mit der exotischen Köstlichkeit Apfelwein gefüllt gewesen war.) Doch es war dann bloß eine Demonstration. Ein Korso aus weiteren Mannschaftswagen führte eine müde Menge fetter Kampflesben und Männleins mit spillrigen Bärten heran, die auf oskarmazerathhafte Trommeln eintrommelten. Dazu riefen die Weiber ins Megafon »Kein Profit/Auf Kosten der Tie-Hie-Re!!!«. Es ging also um eine Demonstration von tierfreundlicher Gesinnung. Auf Plakaten waren gewitzt dreinblickende Ferkel abgebildet. Ein junger Mann hatte eine Mütze auf in Form eines Schwans.