21.1.

Neulich war in Nature ein total interessanter Artikel über die physiologischen Bedingungen, sich einen sogenannten Ohrwurm einzufangen. Es hat etwas mit einer spezifischen Konstellation in der linken Hemisphäre zu tun. Ich kenne das Phänomen in vergleichbarer Weise vor allem vom Lesen; es gibt Sätze, die werde ich auch über längere Zeit nicht mehr los. Aus der Lektüre des vergangenen Sommers verfolgen mich aktuell noch immer zwei:

1) »Und ausgerechnet ihm hatte sie voller Vertrauen und Liebe in den Mund gepisst.«

sowie

2) »Männer waren seltsam, wie Geheimagenten, deren Auftraggeberland nicht mehr existierte.«

Beide stammen sie aus Die Stunde zwischen Frau und Gitarre von Clemens J. Setz, einem Roman, dem ich so unwahrscheinlich und unglaublich viel verdanke, dass es weder auf die sprichwörtlich gewordene Kuhhaut passt, noch irgendwo sonst hin.

Ein dritter Satz, so gesehen handelt es sich um den ersten von dreien, aber er verfolgt mich seit 1998, also seit dem Augenblick, da ich ihn zum ersten Mal gelesen hatte. Bret Easton Ellis hat ihn geschrieben und er lautet:

»Midnight, and I’m sipping Absolut from a plastic cup.«

Von einigen Pausen abgesehen, bringt er damit – und vielleicht auch bloß für mich – ein Dasein als teilnehmender Beobachter der Mode auf den sogenannten Punkt. Im Roman Glamorama, aus dem mein Gehirn diesen Satz sich einbrennen hat lassen, formuliert ihn Victor Ward gedanklich – Victor ist Fotomodell von Beruf, das bin ich nicht. Modeschreiber kommen in Glamorama überhaupt nicht vor. Es kann sehr wohl sein, dass es diese konzeptionelle Lücke in Bret Easton Ellis‘ Gefüge war, aus der heraus mir mein Gehirn dann diesen Satz eingeschlürft hatte. N’importe quoi. Ich will doch auf etwas anderes hinaus.

Es geht mir um Simulakren (plastic cups), um Lügen (Absolut) und um die Geisterstunde namens midnight, also um jenen Zeitraum zwischen heute und gestern, den man nur messen oder behaupten, aber halt niemals oder niemals wahrhaft empfinden kann. Zusammengefasst: So ist die Mode selbst. Sie entsteht, wenn überhaupt, aus dieser Trias: Behauptung, Lüge und etwas, das es nur deswegen gibt, weil man ansonsten kirre würde in Anbetracht eines gewissen Bildes der Gesellschaft; also ist Mode auch eine Art des Erklärungsversuches.

Im Schädels zum Beispiel, wo ich, beamtenhaft, dabei aber fröhlich, jeden Morgen ab 8 Uhr nach dem Schreiben meinen Kaffee zu mir nehme, und dazu drei Tageszeitungen, dort also lassen sich jetzt alle auch sonst täglich anwesenden Männer die Barthaare wachsen: Stefan Rudolf, Andreas Koch, sogar Markus Schädel selbst. Nur Tom Tykwer und Florian Illies machen nicht mit. Aber so ist es halt mit der Fashion. Und: Moment! Ja, wäre das denn überhaupt schon eine – beziehungsweise: liegt hier, im Bartbeispiel, überhaupt schon ein irgendwie nennens-, oder viel wichtiger: ein erörternswerter Fall von Mode vor?

In diesem Club und dort an dieser Bar, die es beide zuvor noch nicht gab, weil Christoph Amend die eigens hatte bauen lassen für die Party des Zeit-Magazins, sah ich mich jedenfalls plötzlich einem Mann gegenüber (oder schreibt man, eines Mannes – ich will ja nicht vorgreifen, aber Ijoma Mangold hat uns gestern halt vorgeworfen, dass es in 2016 – The Year Punk Broke noch immer, also auch noch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, wahnwitzig viele Rechtschreibfehler gäbe (in diesem Fall läge dann ja allerdings ein Grammatikfehler vor), aus seiner, der Perspektive des Feuilletonisten der Zeit, gesehen, woraufhin ich versuchte, mich schützend vor Anne zu stellen, also rhethorisch, weil ich die Regeln ja leider auch nicht kenne, aber dann passierte das Folgende), den ich bis dahin nur von Fotos her kannte und ich schrie, ja wirklich: ich schrie über die drei, vier Meter des ganz in weiß gekachelten Tresens hinweg: »Du bist Tilman Rammstedt!!!«

Vor allem wurde es dann aber noch sehr angenehm. Tilman Rammstedt (ich habe übrigens in meinem ganzen Leben noch keinen Namen derart oft falsch geschrieben!!!), hat ja vor allem etwas, um das ich ihn bis aufs Blut beneide. Seine Muse ist ihm stets gegenwärtig, beziehungsweise begleitet sie ihn. Tilman Rammstedts Muse hielt sich auf der Party des Zeit-Magazins zu keiner Zeit, also noch nicht einmal einen Wimpernschlag lang, weiter als zwei Armlängen entfernt von uns auf. Und indoktrinierte dort Ijoma Mangold, der damit, also mit dem Indoktriniertwerden durch Ronja von Rönne, ganz einverstanden erschien.

Selbst ich kann es mir konkret nicht vorstellen, zu was alles ich noch fähig würde, wenn meine Muse stets bei mir wäre. Stichworte: Neutronenbombe, Supernova, Flagge verbrennen, Regierung ertränken, beziehungsweise: Urknall.

Früher am Morgen traf ich noch Carl Jakob Haupt, beziehungsweise, wir liefen uns in die Arme. Zum zweiten Mal innerhalb einer Modewoche, die für Profis ohnehin bloß zwei Tage hat! Aber schon nach extrem kurzer Zeit während unserer Begrüßung wurde die Musik stumm geschaltet, dazu ließ Christoph Amend einen Scheinwerfer auf die fragliche Stelle der Tanzfläche stellen und eine extrem gesund aussehende Frau mit langen Haaren schaute mich lange an, um dann bloß zu sagen: »Please, don’t do that again.«