21.7.2020

An jedem Samstag gehe ich früh am Morgen zum Erzeugermarkt. Um diese Uhrzeit begegne ich auf dem Weg durch das Westend über die Zeil bis zur Konstabler Wache so gut wie keinem Menschen. An einem dieser Samstagmorgen lag der gesamte Opernplatz voller zerschlagener Flaschen und Scherben von Trinkgläsern samt Trinkhalmen und zerknautschten Zigarettenschachteln. Auch das Wasser im Brunnen, dessen Becken als weite Schale geformt ist, war voller Abfall. Es hieß dann, hier feiert seit neuestem in jeder Freitagnacht eine wachsende Anzahl junger Menschen aus dem Umland bis zum Tagesanbruch. Das wurde dann auch so, die Anzahl wuchs. Am vorvergangenen Samstag fiel mir aber auf, dass der Opernplatz bei meinem Dazukommen schon wieder aufgeräumt und sauber abgespült war. Lediglich die Luft roch zart nach Ethanol, bildete ich mir ein. Aber das Wasser in der Brunnenschale war astrein und klar. Anscheinend hatte die Strategie der Stadtverwaltung darin bestanden, ihre Reinigungstrupps unverzüglich bei Abzug der Feiernden anrücken zu lassen. Am Samstag fand ich diese Strategie dahingehend noch verfeinert vor, dass jetzt etwa zweihundert Mülltonnen auf dem Platz verteilt standen. Ein preemptive strike. Die Tonnen waren Veteranen aus Rave- und anderen Festival-Zeiten in Frankfurt, wie an ihren Aufklebern abzulesen war, die Smileys hinter Sonnenbrillen zeigten. Auf nicht wenigen klebte sogar noch die Werbung des Suhrkamp Verlags. Und auf dem Portikus des Opernhauses steht ja bekanntlich «Dem Wahren Schönen Guten». Aber gleichwie, findet Joseph Beuys, es waren halt im Zweifel noch immer viel zu wenige Mülltonnen auf dem Platz vor jenem Opernhaus. Nicht vierhundert, sagte Beuys, sondern viertausend; noch besser vierzigtausend Tonnen hätten sie aufstellen lassen sollen. Damit die Feierwütigen den Platz vor lauter Tonnen nicht mehr betreten könnten.
An jedem Sonntag hingegen verschickt der Archivar des New Yorker eine EMail mit seiner Zusammenstellung älterer Artikel, die er zur Sonntagslektüre empfiehlt. Die sind immer alle gut, ich schaffe aber allerhöchstens zwei pro Sonntag, da muss ich gut abwägen. Gestern hatte ich mich glücklicherweise für eine Reportage aus dem Jahr 1992 entschieden, Ausgabe vom 15. Juni, genauer gesagt, eine Susan Orlean — wahrscheinlich schon tot — schreibt über den Kosmos eines einzigen Kleinsupermarkts in Queens. Die Geschichte wird über 30, 40 Buchseiten hinweg erzählt und ist derart gut, dass es mir wieder beinahe schmerzhaft bewusst gemacht worden ist, wie grässlich der New Yorker mittlerweile geworden ist. Im Lockdown habe ich mehrfach erwägt, mein Abonnement zu kündigen. Derart angeödet hat mich die allwöchentliche Lieferung. Man denkt ja, New York ist doch eine derartig abwechslungsreiche Stadt, da schickt man als Redaktion mit Budget einfach ein paar Leute und die schreiben dann über den Supermarkt in ihrer Nachbarschaft, und es ist immer noch interessant. Aber es passierte dann das genaue Gegenteil, es ging Woche für Woche um Hintergrundgeschichten zu Lockdown und Mundschutz, zu Black Lives und zu Donald Trump. Aus der Säuglingsperspektive hat die Mama schlimm Brustkrebs. Aber wenn ich mein Abonnement tatsächlich kündigen würde, verlöre ich damit auch meinen Archivzugang, und das kann ich mir nicht leisten. Heute erst, nur beispielsweise, fand ich dort im Faksimile einer Ausgabe im Mai 1972 neben der Rezension von Gravity’s Rainbow eine halbseitige Anzeige, auf der eine Frau im Rollkragenpullover große Augen macht: «A new book by the woman who has made thousands of Americans take to the needle»
Kurios! Auch heiter, und — Spoiler: It’s not about heroin.