22.1.

– Hey!

– Selber Hey!

– Was machst du gerade?

Guitar Hero.

– Aha. Was denn exakt?

Verstärker. Das Setting heißt: Rock am Ring.

– Kann ich mir vorstellen. Und dann?

– Schreiben. Und weiter an dich denken. Ich wollte deine Stimme hören.

– Aber du rufst mich nie an!

– Stimmt. Wobei, neulich ja doch. Ist aber schon zwei Wochen her.

– Drei!!!

– Ewig.

– Ja. Das stimmt.

– Wo ist eigentlich diese ganze Zeit hin, die wir einst füreinander hatten?

– Die war bloß geliehen. Jetzt wird zurückgezahlt.

– Das ist doch beschissen.

– Finde ich auch.

– Und was ich dir noch sagen wollte: Dieses Ding mit der Bank, von der wir uns diese ganze Zeit geliehen haben, das war eine Fehlentscheidung. Die Zinsen sind Wucher, finde ich.

– Ist echt so. Total.

– Gut, hilft ja nichts.

– Ich mach’s wieder gut.

– Ich weiß.

– Komm, ich lese Dir was vor.

– Au ja!

– Hier, warte…

– Wie riecht das denn?

– Na, super gut natürlich! Also: »Der Begriff der Minne spielt ins Freundliche, Lustbare. Er wurde zur Liebe mit Ausschluss des Leids. Also, was wir physiologisch Lust nennen. Ein Teil nur der Liebe. Die Minnesänger sind aber gar keine Lustsänger. Die Sehnsucht, die sie besingen, ist recht leidvoll, weil ungestillt oder von Neuem der Stillung bedürftig. Das, wonach sie sich sehnen, ist freilich der Minnesold, der Lohn des Leids. Frau Venus heißt Frau Minne. Und dann, wenn die ritterlich sehnsüchtige Umwerbung im Meer der Zeit verebbt, ist Minne bloß noch Koitus. Es ging dem Wort Minne so wie dem französischen baiser, das man heute anständigerweise nicht mehr gebrauchen darf. Der französische Vater küsst die Tochter nicht mehr, er umarmt sie auf die Stirn.

Im Jahre 1468 gab der Bastard von Burgund ein prächtiges Turnier zu Ehren der zweiten Gemahlin Karls des Kühnen, der Prinzessin n‘ importe quoi. Dabei meldete sich ein burgundischer Ritter namens Jehan de Chassa und bat in folgendem Schreiben die versammelten Personen um die Gnade, am Turnier teilnehmen zu dürfen:

Erlauben sie, Hochgeborene und Großmächtige Fürstin und Frau, meine übrigen gnädigen Prinzessinnen und Damen, dass ihnen ein Ritterknecht, geboren im Königreich der Knechtschaft, seine Ankunft in dieser edlen Stadt, und zwar in Gesellschaft eines irrenden Fräuleins kundtut, deren Leitung ihm durch Befehl seiner schönen Gebieterin übergeben worden ist. Der Ritterknecht kann mit Wahrheit versichern, dass er sein ganzes Leben einer Dame in Sclavionien mit allen Kräften gedient, und dass die Dame ihn zwar mit Hoffnungen hingehalten hatte, aber sich nie entschließen konnte, ihn zu ihrem Diener anzunehmen. Da seine Liebeskrankheit so sehr zunahm, dass er ihre Qualen nicht länger ertragen konnte. So unterstand er sich in einem Zustande von verzweifelter Hoffnung, um Mitleid, Gnade und Linderung seiner Liebespein zu flehen, deren er sich zwar nicht würdig fühlte, welche er aber doch durch seine treue Ergebenheit verdient zu haben glaubte. Dieser demütigen Bitte ungeachtet, fuhr die erwähnte Dame in ihrer stolzen Gleichgültigkeit, in ihrer Unbotmäßigkeit gegen die Liebe, und in ihrer Vergessenheit der weiblichen Tugend der Barmherzigkeit immer fort, und raubte ihm alle Hoffnung, dereinst in dieser Welt glücklich zu werden. So sehr, dass er sich voll Wut und Kummer in eine einsame Wohnung zwischen Asphalt, Plattenbauten und Diskotheken zurückzog, und hier neun Monate lang von nichts als von Reue, Seufzern und Tränen lebte. Wenn dieser Zustand länger gedauert hätte, so würde der irrende Ritter bald das Ende seines Lebens erreicht haben. Nachdem aber die Dame von seinem Zustande Nachricht erhalten hatte, so empfand sie Reue über ihre sündliche Undankbarkeit, schickte das erwähnte irrende Fräulein, welches ihn führen sollte und ließ ihm durch diese Dame viele schöne Vorstellungen machen: Dass die Seligkeiten der Liebe durch langes Harren, durch langwierige Drangsale, und durch unaussprechliches Dulden erkauft werden müssten. Dass ihre Freuden umso köstlicher seien, um einen je höheren Preis man sie erworben habe. Und dass es in der Liebe keine größere Sünde gebe als die Verzweiflung

(Dann lange nichts).

– Weinst du?

– Ein bisschen.

– Wegen uns?

– Nein, nicht wegen dir. Ich kann dieses Bild nicht vergessen, mit der Landart auf Lesbos. Diese Berge von Schwimmwesten. Am 5. Januar allein wurden dreißig Leichen angeschwemmt. Nicht alle auf einmal, aber als es dunkel wurde, waren es dreißig. Dreißig Menschen, alle tot. Es gibt diesen Film, Rain heißt er – kennst du den?

– Du hattest mir doch gesagt, du magst keine Filme.

– Ich mag sie auch nicht, ein paar dann halt schon. Der spielt in Neuseeland. Es geht um einen kleinen Jungen und seine große Schwester. In dem Film wird kaum gesprochen. Man sieht die Kinder, wie sie ihre Eltern beobachten. Also, wie sie das erleben: diese Erwachsenenwelt. Erzählt wird die Ferienzeit, die Eltern sitzen tagsüber hinter dem Haus in Liegestühlen und betrinken sich. Der Vater quetscht sich eine halbe Zitrone in jedes Glas Whisky, das er trinkt und am Abend ist da ein ganzer Sandeimer voll mit seinen Zitronenresten.

Dann geht die Party los und es kommen jede Nacht Gäste. Die Eltern schlafen bis mittags und der kleine Junge hat nur ein Unterhemd an, wenn er sich die Milch aus dem Kühlschrank holt, die er im Stehen aus der Flasche trinkt. Dann darf er zu seiner Schwester ins Bett, aber er hält das nicht lange aus; er kann nicht noch länger schlafen. Er geht dann allein in den Garten und hinunter zum Strand. Er ist nicht zu klein, aber er kann noch nicht schwimmen.

Nachmittags liegen sie alle auf einem Segelboot in der Sonne. Das Boot gehört einem Fotografen, der Vater ist besoffen und die Schwester beobachtet, wie der Fotograf sich unterdecks an die Mutter heranmacht. Sie nimmt seinen Schwanz in den Mund, danach fickt er sie. Es ist das totale Klischee, aber man spürt, dass es etwas Neues ist für das Mädchen. Sie sieht das zum ersten Mal, weil sie es selbst noch nicht erlebt hat. Der Fotograf wirft später seine Uhr über Bord und die Mutter taucht die wieder hoch vom Grund der Bucht. Als der Vater aufwacht, sind alle von Bord.

Und später dann, auf der allabendlichen Party, tanzt die Mutter mit dem Fotografen zu Urge Overkill. Sie ist aber so besoffen, dass sie über den niedrigen Tisch stolpert und hinfällt. Niemand hilft ihr auf. Dem Mädchen fehlt die Kraft, sie hochzuziehen. Deshalb schimpft die Mutter, weil ihr das alles peinlich ist. Der Fotograf wartet im Kinderzimmer. Der kleine Junge tut so, als ob er schon schliefe, und der Fotograf fragt das Mädchen, ob er morgen von ihr Bilder machen darf.

Sie treffen sich in dem Kiefernwald, der die Bucht umgibt. Eigentlich sollte sie auf den kleinen Bruder aufpassen, aber den lässt sie am Strand zurück. Das Mädchen lässt sich von dem Fotografen ficken. Als sie zurückkommt, ist der kleine Junge tot. Ertrunken. Er hat nichts an, bloß das Unterhemd.
Dann kommt der Vater und trägt ihn nach Hause. Der Vater schreit. Die Mutter haut ihn.

– Kann ich verstehen.

– Ja, ich auch. Aber weißt du, mir fällt jetzt ein, dass ich etwas vergessen habe. Eigentlich ist das wohl der Clou der Geschichte und ich frage mich gerade, warum ich ausgerechnet den vergessen habe, dir zu erzählen.

– Ich weiß.

– Wieso? Kennst du den Film etwa doch schon?

– Nein, kannte ich nicht und ich weiß jetzt auch gar nicht mehr, ob ich den überhaupt noch sehen will – weil so schön, wie ich den gerade gesehen habe, kann er doch gar nicht sein.

– Das hast du schön gesagt, Danke.

– Bist du jetzt noch traurig?

– Ein bisschen. Aber das ist doch immer so bei mir.

– Komisch, oder? Dass man es trotzdem spürt, auch wenn es doch jeden Tag gleich ist. Also, dass man sich da nicht abhärtet oder abstumpft dagegen. Gibt es denn überhaupt einen universalen Zustand, von dem man abweichen kann?

– Ich hatte gestern – oder war es vorgestern? – in der Zeitung den Aufmacher von Dietmar Dath gelesen. Das klingt jetzt bescheuert. Das klingt sogar mega bescheuert, aber ich war schon bei der Überschrift Sex ist verpuppte Liebe echt fix und foxi. Und dann erst wie er schreibt. Auch was. Aber das fließt bei ihm halt auch so wunderschön ein in das Wie. Mich interessiert dieser Puppenfilm jetzt, aber vielleicht geht es mir auch bald so, wie es Dir geht mit Rain: Ich habe beinahe Angst, dass dieser Film gar nicht mehr halten kann, was mir der Text von ihm verspricht.

– Ja, diese Zeitung.

– Allein, dass es eine Seite gibt – in loser Folge!!! –, die Staat und Recht heißt, und da war gestern ein Text von meinem Lieblingshistoriker Alexander Demandt  abgedruckt, der hat auch Das Privatleben der Römischen Kaiser gemacht, das kann ich beinahe auswendig, obwohl es teilweise echt schwer zu merken ist, was da drin steht.

– Ich weiß!

– Hey.

– Ja?

– Habe ich Dir eigentlich schon mal gesagt, dass ich dich liebe?

– Ich glaube ja. Aber sag’s mir noch ein Mal, bitte!

– Ich liebe dich.

– Ich liebe dich auch.

(Dann lange nichts)

– Ich will jetzt auf gar keinen Fall auflegen.

– Ich auch nicht. Geht gar nicht. Auf gar keinen Fall.

– Du musst jetzt aber schlafen. Es ist bestimmt schon halb sechs.

– Was?!?

– Oh nein, da kommt der Newsletter von The Business of Fashion. Also ist es schon sechs.

– Oh nein. Dann muss ich jetzt wirklich schlafen. Zumindest ein bisschen.

Schlaf schneller, Genosse: so heißt ein Buch, das ich als Kind einmal hatte.

– Schön.

– Unterzeile: Dein Bett braucht ein anderer.

– Hahaha!

– Geht ja nicht wirklich. Leider.

– Ich weiß!

– Ja.

– Was machst du denn jetzt noch? Schlaf doch auch mal. Dir zuliebe.

– Ich kann nicht. Ich will jetzt schreiben. Stefanie steht in zwei Stunden auf, dann muss das alles fertig sein.

– Hey?

– Hey.