22.11.

Auf dem Küchentisch ein Gedicht von Dietmar Dath: Menschenseelen brauchen

Natürlich in jedem Alter

Wenn sie nicht verkümmern wollen

Schönheit und Wahrheit

Als Nahrung

Zur Entfaltung

Am Morgen sah Daniel noch einmal zerstörter aus. Ganz leise sein Gruß, das gewohnte Lächeln nur wie ein Hinweis darauf, wie ich es im Gedächtnis behalten sollte. Fahl und, wie es heißt: von Gram zerfurcht. Es war das erste Mal, dass er sich in meiner Gegenwart kein Croissant bestellte. Schwache Reaktion auf meinen Bericht von den erotischen Zeichnungen George Condos in der Sammlung Berggruen. Ich spürte sein Verlangen, nun endlich wieder über die politische Lage in Amerika sprechen zu dürfen, körperlich. Immer wieder ging sein Blick zur Zeitung hin, die aufgeschlagen vor mir lag.

Ich zeigte ihm das Bild vom Papst, der, ganz klein im Verhältnis zur riesenhaften Pforte der Barmherzigkeit, diese, sein Gesicht vom Kameraauge abgewandt, im Zuschieben begriffen war. Das Bild allein, genial beschnitten, das Zusammenspiel der alten Farben, dunkles Holz, polierte Bronze, der helle Brokat des bodenlangen päpstlichen Gewandes, das noch Falten warf, wie auf den Gemälden alter Meister, aber halt auch wie auf denen von George Condo festgehalten: Es tat seine heilende Wirkung. »Oh nein, nein, nein: der Vatikan ist fantastisch«, sagte Daniel. Und fing an laut zu träumen von der Kunstsammlung des Vatikans, they are collecting art since the beginnig of time. Mich würden ja vor allem die Briefe der Missionare interessieren, die in der Bibliothek des Vatikans aufbewahrt werden. Und dann, dies interessierte uns beide: häusliche Szenen. Wie dann etwa in einer Sitzecke vor einem raumhohen Fenster mit Ausblick auf die Stadt einige Kardinäle in mit Leder bezogenen Sesseln um einen niedrigen Tisch herumsäßen, Tisch vielleicht in Form einer ausgedienten Pauke der Schweizer Gardisten, und sich auf Latein unterhielten (so wie es ja jahrzehntelang Faszinosum gewesen war, dass in der Redaktionskonferenz der Zeit noch lateinisch diskutiert worden war, angeblich; und dazu wurden drei Sorten Sherry serviert: Medium, Dry, Sweet für die Frauen).

Ob es wohl möglich wäre, ein halbes Jahr lang im Vatikan zu hospitieren? Nach freiwilliger Abgabe von Smartphone und Rekorder, bloß mit Block und Stiften bekleidet? Tief in dieses herrliche Gedankenspiel verstrickt, gewärmt davon auch, überquerten wir die gefährliche Straße wie eine Furt und bald darauf trennten sich unsere Wege.

Kurze Zeit später sah ich von meiner Arbeit auf und es wurde bereits wieder dunkel. Es dunkelte sich ein von den Rändern her. Die Dunkelheit sank tatsächlich von oben hernieder und in etwas geringerer Streifenbreite stieg die Dunkelheit auf, hinter dem Gerippe des Waldes auf der anderen Seeseite, bis die trübe Helligkeit in der Mitte zu einem Schlitz zusammengedrängt worden war, wie früher, ganz früher, ein verlöschendes Fernsehbild. Selbst durch das Fernrohr konnte ich von dem Raubvogel, der auf dem Baum schräg gegenüber ansaß, nicht mehr erkennen als einen Schattenriß. Seiner Form nach tippte ich auf einen Bussard. Und dabei fiel mir ein, dass ich den auf Twitter angekündigten Großreport in der Sonntagszeitung über die Jäger gar nicht gelesen hatte gestern. Weil ich ihn offenbar gar nicht gefunden hatte. Nein, weil ich von Friederikes Geschichte, von der ich nichts gewusst hatte, bis ich sie in der Zeitung dann fand, derart angetan war, dass ich es danach nur noch bis zum Feuilleton geschafft hatte. Und dann, den Sonntag über, die Reaktionen auf Twitter verfolgen wollte: dass sich tatsächlich, wie in dem Gedicht von Novalis, durch ein geheimes Wort von ihr das ganze falsche Wesen dort auf Twitter und auf Facebook hinweg gehoben hatte und verzogen — zumindest für ein paar Stunden. Ganz schön viele. Immerhin!

Und dieses Wort war natürlich Liebe gewesen.

Am 5. Januar 1999 fährt Rainald Goetz nach Wolfsburg, um sich dort eine Andy Warhol-Retrospektive anzuschauen. Ich hatte mir das gestern noch einmal durchgelesen wegen der Sache mit Warhols Dogge, von der Daniel mir erzählt hatte. Rainald fährt mit dem Bus zur Kunsthalle, die ich auch kenne. Er sieht die Fußgängerzone dort, die ja bizarr ist, mit dem von Trashläden wie schief gerahmten Bau von Alvar Aalto, und schreibt um 10 Uhr 02: »Und diese Vorstellung, wie es wäre, wenn es einen durch die Liebe sowohin verschlagen würde, dann wäre vielleicht alles ›Wolfsburg‹, und das würde dann alles beinhalten und versprechen.«

Dem war nichts hinzuzufügen aus meiner internen Sicht.