22.1.2020

Steigt man den Abhang im Wald hinunter, steht man bald am Ufer jener Lagune, die Ende der siebziger Jahre Drehort war für den gleichnamigen Film mit Brooke Shields. Die wellenlosen Wasser sind tatsächlich blau, je nach Lichtstimmung spielt der Farbton von einem erfrischenden Türkis in ein wummerndes Petrol, das mich an den Bergsee von Sils Maria erinnerte. Von daher wusste ich, dass solcher Farbeindruck vom Kalkgehalt des Wasser mitbestimmt wird. Kalk hier natürlich von den Muscheln herrührend, dem und den Korallen, mit deren Besiedelung eines vorgelagerten Riffes die Entstehung der Lagune erklärt wird. Bei dem Gestein, aus dem der bewaldete Hügel, vielleicht aber sogar die gesamte Insel Jamaika besteht, handelt es sich mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit (bin kein Geolog) um erkaltete Lava; jedenfalls besteht die Oberfläche der Steine aus ungefähr ebensovielen blasenförmigen Lufteinschlüssen wie aus glatter Substanz, die sich mal gröber durchlöchert, mal feinporig zeigt. 

Dass es auf Jamaika, hier im Gegensatz zur Schweiz an Kalk im Wasser zu fehlen scheint, lässt sich an der teils dramatischen Zahnsituation der Landbevölkerung ablesen. Oftmals ragen nur wenige weisse Tasten aus der Dunkelheit einer weitgehend auf weiche Kost angewiesenen Mundhöhle. Die asoziierte Melodie erklingt da freilich in Moll. Verleiht somit den allgegenwärtigen Rhythmen des Reggae eine wehmütige Note, die doch viele Europäer an der als zu unbeschwert empfundenen Popmusik Jamaikas vermissen. Hier, am Ursprungsort der dem Gleichmass der Wellen abgelauschten Hypno-Rhythmen, verkehrt sich diese trügerische Hörerfahrung und offenbart eine schattige Botschaft, von der schon der von der Existenz Jamaikas und der Karibik nichtsahnende Goethe ahnungsvoll schrieb, dass «niemand ungestraft unter Palmen wandelt».  

Am anderen Ende entlässt einen der Wald auf eine schmale Strasse, die als «the lonely road» bezeichnet wird. Sie führt auf eine Landstrasse, die, vermeintlich einspurig angelegt, zu beiden Seiten mit recht hoher Geschwindigkeit befahren wird. Von dort aus in östlicher Richtung bergan gehend, erreicht man nach zwanzig Minuten eine meerwärts zeigende Abzweigung, deren bald zunehmend schmaler ausgeführter Asphaltbelag durch ein verschlafenes Viertel von Landhäusern älterer Bauweise führt. Die Sackgasse schliesst zu einem weiteren Waldrande hin, von wo aus vermeintlich aus Wurzelholz gezimmerte Treppenstufen bergabwärts in die grüne Tiefe führen — doch sind diese Stufen gewachsen, handelt es sich dabei um die Wurzelstränge der zu beiden Seiten des «Treppenhauses» aufragenden Baumriesen, die, von kundigen Händen kaskadenhaft vom darüber gelegenen Erdreich befreit, nun sich «wie geschaffen» dazu eignen et cetera. Jedenfalls sitzt dort am Fusse eine Frau an einem Schülerpult aus unpoliertem Holz und döst im Schatten eines Strauches. Aus bunt lackierten Hütten weht Musik heran. Ein Obulos ist zu entrichten in die kleine Kasse auf dem Pult, dann darf der Sandstrand benutzt werden. Das Meer ist von einem milchigen Türkis, es gibt eine Brandung, der Sand besteht bei näherem Hinsehen aus den groben Fragmenten von Muschelschalen, einer Art Muschelflocken, oder -Konfetti. Wer dem omipräsenten Angebot widersteht, von den getrockneten Blütenständen der autochthonen Cannabis sativa zu kosten, kann am entlegeneren Zipfel der schönen Bucht auch noch zum Teil oder sogar gänzlich erhaltene Exemplare dieser schönen Muscheln finden, die, wahrscheinlich des unaufhörlichen Haftens müd‘ geworden, mit der erstaunlich heftigen Brandung von ihren angestammten Plätzen an den Felsen gerupft und darauf an den Strand gespült werden. So kommt dort eins zum anderen, das Ganze zum Fragment seiner selbst, das wiederum erneut zu einer Gänze findet, diese allerdings von einer begrifflich anderen Gestalt, deren Summe in diesem Fall, jenem Strand aus Muschelgrus, kaum mehr sein wollen dürfte als die Summe seiner einzelnen Teile.

Zu dem Kult der Ras-Tafaris werde ich bald noch Genaueres schreiben.