22.3.

Früh am Morgen, während auf dem Baum vor meinem Fenster noch die Amsel sang, hatte ich das Haus verlassen und war erst entlang der Schnellstraße, dann durch den Wald an den Strand gelaufen. Im grauen Licht Muscheln aufgesammelt für das Forschungsprojekt der Muse. Es gibt nicht viele, es sind entweder Süßwassermuscheln, deren Außenseiten in hellen Beigetönen quer gestreift sind und auf der Innenseite zeigen sie eine dünne Schicht Perlmutt, oder winzige Miesmuscheln, so klein wie der Fingernagel meines kleinen Fingers und noch kleiner teilweise. Von denen nehme ich nur eine einzige mit - als Objekt der Anschauung und weil hier die Schale nicht harmonisch aufgewölbt ist, sondern dreieckig zu den Kanten hin verläuft, jeweils ausgehend von der unmuschelig scharfen Kante eines Mittelgrates. Während ich da am Ufer hin und her ging, mich ab und zu bückte, setzte nah am Paravent eines diese kleine Bucht umgebenden Gebüsches ein Mann im Neoprenanzug die Seile und übrigen Bestandteile seines Drachensegels zusammen. Später, ich stand gerade an einem Zaun, der die Brutgebiete der Wasservögel im Schilf vom öffentlich zugänglichen Teil des Strandes abschirmt, und ließ in meiner Tasche die Muscheln klappern, da sauste er weit draußen auf dem See durch mein Blickfeld. Es hatte zu regnen begonnen, aber der auffrischende Wind war genau das, worauf er gewartet hatte. Er hielt sich auf einem kurzen Surfbrett aufrecht und ließ sich von dem Segel über die Wasseroberfläche ziehen. Der Wind war so laut, dass sein Surfen geräuschlos wirkte, und elegant. Er fuhr einfach immer hin und her. Der See ist ja auch nicht gerade groß.

Zu Hause machte ich mir dann Notizen für eine Novelle. Darin sollte es um die Stunde der wahren Empfindung gehen, also um diese Momente, die dazu geführt hatten, dass Salah Abdeslam sich dazu entscheiden konnte, sich nicht zu sprengen, sondern zu desertieren und weiter zu leben. Das einzige, was mir dazu einfiel, waren die Grillwalker aus Berlin, die als Marketender der Deutschen Nationalmannschaft im Stade de France durch die Ränge gehen und Rostbratwürste anbieten. Und Salah Abdeslam bittet um solch eine Wurst, vertilgt sie, und auch weil er vorher Haschisch geraucht hat, kommt ihm das exotische Aroma der Thüringer einfach bloß himmlisch vor. Es ist der Wohlgeschmack der Bratwurst, der ihn zur Vernunft bringt. Er spürt Lebenslust, vor allem will er noch viel mehr davon: Würste, aber auch von allem anderen. Er schaut sich nach dem Bruder um, um ihn ebenfalls am Genuss dieser Würste teilhaben zu lassen, aber der ist in der jubelnden Menge verschwunden.

Losgehen würde die Novelle mit dem Erwachen der Brüder in einem Doppelzimmer in der Rue de Navarin. Bilder einer Überwachungskamera zeigen die kleine Straße. Alles ist leer und an der Fassade des Hotels, in dem die Brüder geschlafen haben, steht in schönen Neonbuchstaben »Amour«. Sie waschen sich, dann beten sie. Das Frühstück im kleinen Restaurant des Hotels würde relativ ausführlich geschildert, weil damit der Wendepunkt der Geschichte, der ja durch die Bratwurst ausgelöst wird, symbolisch vorbereitet würde. Den Brüdern werden Radieschen serviert, comme d’habitude in diesem Hotel, und sie diskutieren diese Radieschen, die von außerordentlich guter Qualität sind, das dazu gereichte Brot ebenfalls extrem gut, und an den Radieschen sind die Blätter noch mit dran, sauber abgewaschen, all das gefällt ihnen gut. Das Tischgespräch dreht sich dann, nachdem die Radieschen aufgegessen sind, noch um ein Poster, das dort an einer Wand hängt. Darauf sind lauter berühmte Künstlernamen untereinander gereiht und jedem dieser Namen ist ein Stilmittel zugeordnet, das dieser Künstler geprägt hat und das seitdem ihm gehört - zumindest steht das dort in einer immerselben Formulierung auf diesem Plakat, also: »Margiela owns white« beispielsweise, »Yves Klein owns blue«, »Georg Baselitz owns upside down«, »Vermeer owns Light« und so weiter. Es wird keine einzige Künstlerin aufgezählt. Sie zahlen das Zimmer, gehen hinauf, um sich vollends anzukleiden, und verlassen das Haus.