22.7.2020

Beckett ist schlecht gealtert, ich konnte noch nie verstehen, was er damit gemeint hatte, dass die Sonne keine Wahl hat. An den Satz aber dachte ich heute auf dem Weg zum Friseur, da sah ich unter den Arkaden am Platz der Republik einen jungen Mann, der saß auf dem Boden zwischen zwei Säulen in einem Fleck Sonnenschein. Wie auf einer Lichtung. Wie zu einem Picknick auf dieser Lichtung mitten in der Stadt hatte er seine Habseligkeiten rings um sich ausgebreitet: Die rote Blechdose, einst für Pullmoll, mit den frischen Zigarettenfiltern, die Flasche mit destilliertem Wasser — Apothekenware —, sie war halbvoll. Die Spitze natürlich, die gibt es von der Suchthilfe. Sein Heroin kochte er in einem Portionslöffel für Pulverkaffee — vermutlich bei Tchibo mitgehen lassen, über der Flamme aus einem Lichtbogenfeuerzeug (Tesla T13). Ich finde auch, dass man in sein Werkzeug investieren sollte. Wie das wohl zusammenpasst: Heroin, intravenös und eine Außentemperatur von 30°?

Beim Friseur jedenfalls — die vergeben die Plätze nach dem Prinzip von Chatroulette — bekam ich dann ausgerechnet diesen vorn allen anderen zugeteilt, den ich bei mir im Stillen als den Kirgisen bezeichne. Weil er mit Vorliebe ausgefeilt wirkende Muster, die an sogenannte Tribal Tattoos erinnern, in die Bärte seiner Kunden ziseliert. Bei mir war nicht viel zu machen und trotzdem widmete er sich mit Inbrunst meinem verbliebenen Haar. Inbrünstiges Knurren drang durch den schwarzen Vorhang seiner Gesichtsmaske. Gerade so, als ob er ein Kater war, oder ein Luchs, und ich kraulte ihm zwischen den Pinseln. Dabei war es ja umgekehrt. Doch hielt ich still. Die Orientalen bevorzugen ja, nicht bloß wenn es heiß ist, zitrische Düfte. Ganz billiges, sprittiges Kölnisch. Derartige Noten verströmend, ich hatte keine Wahl, schlich ich auf schattigen Wegen heim.

Insgesamt wieder einer von diesen Tagen, während derer ich hinter der Glasscheibe stehe und auf der anderen Seite der Kinderchor. Und ich kann hören, was die aus meinem Lied machen, das sie singen sollen. Aber meine Möglichkeiten, Einfluß zu nehmen von meinem Platz hinter der Scheibe, sind begrenzt. Extrem begrenzt.