22.9.

Golden sank die große Scheibe in den langen Waldsaum ein. Er nahm sie willig in sich auf (es blieb ihm auch gar nichts anderes übrig, als) und Mücken, vom Licht bestrahlt, tanzten vor mal hell, mal schattig baumelndem Lindenlaub.

Ich konnte meinen Blick kaum abwenden, musste aber, denn ich hatte kurz zuvor eine E-Mail von Joachim Lottmann erhalten. Aus Wien, doch es spielt bei E-Mails ja keine Rolle, von wo sie abgesandt wurden; dafür der Anhang: ein Scan des Artikels aus der Zeitschrift Wiener vom April 1989. Der lang angekündigte Verriss Martin Kippenbergers, aufgemacht in dem für diese Zeit typischen Stil mit kleinen grafischen Elementen in Pastellfarben, ansonsten aber genau so eigentlich, wie der Spiegel mittlerweile ausschaut: drei Seiten Text, dazu noch einige Fotos, auf denen »Der seltsame Herr Kippenberger«, so die Überschrift im wording dieser Ära, von Kopf bis Fuß in Normcore gekleidet auf den diversen schwarzen Ledersofas des Hotel Chelsea zu Köln abgebildet war.

Ich hatte es mir versagt, vor dem Abtippen auch nur eine Zeile des Textes zu lesen. Der Scan war so schwer lesbar, dass die für waahr entwickelte Erfassungssoftware keine Hilfe bieten konnte. Von daher, aber dem schaute ich freudig entgegen, war eine Nachtschicht angesagt (für meine Verhältnisse), denn der Text sollte, wie unseren Lesern versprochen, am Samstag online verfügbar sein.

Kurz vor Mitternacht klappte ich den Computer zu. Im Kasten sozusagen war ein grandioses, aufgrund seiner schonungslosen Härte über weite Stellen schockierendes Portrait des Künstlers. Vor allem, wenn die Reportage vom Sexualverhalten Martin Kippenbergers berichtet. Nichts davon klingt haarsträubend, weil sich alles darin Erwähnte zu mehr als einhundert Prozent mit dem deckt (sic), was mir seit meinem sechzehnten Lebensjahr von diversen Zeitzeugen über Martin Kippenberger erzählt wurde. Seit dieser Zeit besitze ich die Volksausgabe des Kippenbergerschen Œuvres, die damals bei Taschen erschienen war. Persönlich begegnet waren wir uns leider nie. Lottmann schafft es in diesem Text sogar, dass meine bis dahin schon seit jeher große Verehrung Kippenbergers als größtem Künstler der Achtzigerjahre, so wichtig wie Jeff Koons seinerzeit, nicht nur nicht beschädigt wurde angesichts all der grotesken, auch ekligen Details, die Lottmann montiert, sondern nach meiner Lektüre beinahe nur noch größer, ja: schärfer, aus klarereren Beweggründen motiviert dastand. Der Text hat mehrere völlig überraschend wirkende Gefühlsgelenke eingebaut, die es dem Leser erlauben, die verstrickte Persönlichkeit des Künstlers von allen Seiten her blitzartig ausgeleuchtet zu beschauen. Vor allem von unten. Aus einer demütigen Froschperspektive, die Lottmann als Berichterstatter des Wiener von Anfang an einzunehmen bereit sich findet, und zu der er, so viel sei verraten, in einem genialen Move am Ende wieder zurückfindet, obwohl er sich, aus Gründen der verbesserten Übersicht, kurz zuvor noch in einem an den Mystikern, vor allem halt an Johannes vom Kreuz, geschulten Schraubenstieg aufwärts befand.

Es handelt sich um seine beste Arbeit auf dem Feld des literarischen Journalismus, das steht für mich außer Frage (obwohl ich diesbezüglich noch längst nicht alles von ihm gelesen habe). Mit einem tief reichenden Gefühl der Befriedigung umgehend zu Bett.