2.3.

Der Sonnenaufgang färbt das Wasser für ein paar Augenblicke lang rosig ein. Glatt ausgebreitet liegt es da, auch weil ich es ohne Brille betrachte. Wie an einem Sommerabend. Den Tag über und die Nacht hindurch hatte es geregnet. Pariser Wetter, die Luft gerade das eine, vielleicht zwei Grad wärmer, sodass sich die Kälte des Wassers, das in Tropfen vom Himmel fällt, auf dem Gesicht und an den Händen unangenehm bemerkbar macht. Zeit des Hasens: Im Schaufenster des Delikatessladens Goldfasan am Stuttgarter Platz steht schon ein besonders schöner, gut vierzig Zentimeter hoch, in violettfarbene Alufolie eingepackt. Aus dem Efeu zwitschern die vom Regen zurückgedrängten Spatzen. Es klingt empört.

Das Purple Institute hat ein kleines Heft herausgegeben mit den Vogelporträts von Carsten Höller. Nur wenige Seiten, aber ich nehme es immer wieder zur Hand, um es von neuem zu studieren. Die Vögel werden auf Einzelseiten gezeigt, wie sie sich im Griff einer Männerhand mit kurz geschnittenen Fingernägeln befinden. Wie schön jedes einzelne Vogelauge von dem immer anders, immer anders prächtigen Gefieder abgesetzt ist. Wie ein polierter Spiegel, wie ein dunkler Stein von einem farbigen Ring eingefasst. Ich spüre das Gewicht jedes einzelnen Vogels, sie wiegen gar nichts im Vergleich zu meiner Hand; ich erinnere mich auch an die Wärme des Vogelkörpers und dass da, hält man einen Vogel in der Hand, eine Feuchtigkeit spürbar wird – sie geht in die Erinnerung ein –, weil auch die Vögel schwitzen.

Neulich las ich es sogar in einem Artikel über einen Hirsch, der, aus Gründen, die sein Geheimnis bleiben werden, seit Monaten in Symbiose mit einer Kuhherde lebt (möglicherweise waren es aber auch Pferde). In der Zeitung fragte der Text auf den Hirsch bezogen »Was treibt ihn an?«. In der Tradition rhetorischer Moden ist diese blöde Frage en vogue. Ich frage mich, seit wann das offen ausgesprochen interessant wurde, zur Frage, was sie, es, ihn antreibt. Eine in Anführungszeichen gesetzte Eingabe bei Google »Was treibt ihn an?« ergibt erstaunlich wenige, nur ein paar hundert Treffer für deutsche Webseiten. Auf Onlineveröffentlichungen bezogen, taucht die Frage vor vier Jahren zum ersten Mal auf, der Einsatz häuft sich seit vorletztem Jahr und verbreitet sich da bereits aus den Zeitungen und Zeitschriften in die Verlautbarungen von Gemeindeverbänden, Feuerwehrvereinen und Bäckereien. Auf ähnliche Weise interessiert mich, wann zum ersten Mal Apfelschorle bestellt wurde in Deutschland. Das muss in den späten Achtzigerjahren gewesen sein, in den Neunzigerjahren war die Bestellung bereits zu einem no brainer etabliert. Apfelschorle hat in der englischsprachigen Wikipedia einen eigenen Eintrag, der sie als typisch deutsches Getränk erklärt. (Und angeblich bestellen die Österreicher dann eine Chrissy – aber hieß die Apfelsaftschorle in Ö nicht Obi g’spritzt? Ganz sicher bin ich mir auch nicht, ich war länger schon nicht mehr in Österreich, kann mich aber noch an das Kracherl erinnern, durch dessen Bestellung man eine Aprikosenlimonade erhielt, die stark prickelnd schmeckte und auch ansonsten köstlich war.)

Vögel, Geräusche machend im Efeu bei Regen, Vögel umherhüpfend auf dem nassen Rasen, Vögel bei Wind. Äugelnd. In die Kamera, mir entgegen, ins Offene, ins Nichts. Vögel in der Hand des Menschen, der ihnen Ringe anlegt ans Fußgelenk. Milliarden von Vögeln, Millionen von Arten. Was treibt sie an?