23.5.

Auf dem Wasser treibt eine Schicht Blütenstaub, seit dem Sturm hat er sich auch im Inneren des Hauses verteilt und es ist nicht möglich, ihn in den Staubsauger zu saugen, er lässt sich aber wegwischen (manuell). Offenbar ist Blütenstaub nur seinem Gattungsbegriff nach mit dem Hausstaub verwandt.

Ich kenne eine Stelle im Wald zwischen Försterei und der verlassenen Pferdekoppel, wo noch Maiglöckchen wachsen. Wobei die meisten davon bereits unansehnlich geworden sind. Trotz des vielen Mairegens. Ich musste jeweils die untersten drei, vier Blütenkelche abzwicken, die gelblich und trocken waren. Die Maiglöckchen an ihren kruckenhaft geschwungenen Stengeln klingelnd: Naturvorbild für die Designer der Gaslaternen – wann war das: früher als Jugendstil?

Seit gestern kenne ich eine Stelle am Lehrpfad zur Evolution der Gaslaternen in Deutschland, der von der Straße des 17. Juni bis zur Lehr- und Versuchsanstalt für Strömungswissenschaft durch den Tiergarten führt. Dort lag eine frisch geschlüpfte Amsel. Frisch gestorben war sie auch, ihr Körper noch ganz prall und unter der dünnen Haut, die rosig schien, konnte ich die bunten Eingeweide erkennen, die sahen aus als hätte das Vöglein ein Knäuel Gummibänder verschlungen und sei daran erstickt. Eine physiologische Frühgeburt, wie der Mensch, ohne Federn, blind und der Schnabel ist noch weich und stumpf und breit geformt wie ein Paar gelb angemalte Lippchen. Aus dem Nest gestürzt, wohl eher gestürzt worden. An einem Nachmittag im Mai.

Gleich hinter dem Schleusenkrug, der neben dem markant geformten und auch angemalten (in rosa und violett) Versuchsgebäudes der Anstalt für Strömungswissenschaften, das ob seiner Form allein (»Wozu dies mannshohe Rohr, das einmal durch den Klotz hindurch führt; und warum nur ist es pink?«) in den vorüberziehenden Waggons der S-Bahn verlässlich für Aufsehen sorgt, erstreckt sich unter eben diesen Gleisen ein Fundament aus Beton, das, weil es bis zum Bahnhof Zoologischer Garten reicht, bald als eine Mauer erscheint. Hier lagern, zwischen ein paar dürren Akazien, die aus dem Nest gestürzten Menschen. Sie leben noch. Und das, so ist der Eindruck im Vorübergehen an einem Nachmittag im Mai: gar nicht so schlecht. Auf eine perverse Weise scheint hier das Déjeuner sur l’herbe recht frei nach Manet inszeniert. Vielleicht von Anne Imhof? Jedenfalls wirkt es so: gestylt und gecastet und zumindest genial kuratiert, wie dort vor dem gefährlichen Zaun eine Frau lagert, auf einer punkig karierten Wolldecke, deren Unterseite, die umgeschlagene Ecke führt es ihrem Publikum vor Augen: mit einer aufgedampften Silberfolie gegen die Nachtfeuchte des Rasens isoliert. Ihr Kopfkissen besteht aus einem Plastiksack von Netto, der mit diversen Objekten gefüllt wurde. Sie trägt einige Kleidungsstücke übereinander, obwohl es noch sehr warm ist. Zuoberst ist zu sehen: ein geblümtes Kleid. Sie schmaucht an einer E-Zigarette. Und schaut in die Ferne, in Richtung des Parkplatzes, an uns vorbei.

Der ihr gegenüber Liegende, ein Mann, hatte am Morgen noch ein ziemliches Durcheinander in Gestalt vieler Tüten um sich. Das hat er nun geklärt und alles dort auf seinem Rasenplatz sieht vorzeigbar aus: er lagert, ganz klassisch, auf einem ausgebreiteten Schlafsack. Die vielen ausgespülten Glasgefäße – für einst Sardellen, Marmelade und Honig, Silberzwiebeln, Maiskölbchen, Cornichons, Marmite, Nutella, Frankfurter – hat er, nach Größen sortiert und gestaffelt, um sich herum arrangiert. Ein eher ausgekippt wirkender Sack halb ausgedrückter Tuben und Flaschen von Acrylfarbe und Plaka weisen auf eine entweder soeben unterbrochene, beendete oder bald schon im Entstehen begriffene Karriere als Künstler hin.

Dazu könnte man ihn, zu den jeweiligen Lebensphilosophien könnte man jeden von ihnen, es sind ja keine Amseln, befragen. Aber das tut freilich niemand. Ab und an findet sich in den Arrangements dieser Tableaux vivantes ein Becher oder eine Tasse integriert, in die man Kleingeld, auch Scheine, wobei ich das noch nie mitbekommen habe, fallen lassen kann.

Im Winter und früh am Morgen sieht die Szene dort natürlich ganz anders aus. Und über sehr lange Zeit betrachtet ganz sicher auch. Wie alles halt.