24.1.

Vor einem Monat war Heiligabend, da saß ich mittags noch auf dem Balkon in der Sonne und – tja, ich weiß leider nicht mehr genau, was ich genau da gedacht habe, weil ich damals noch nicht jeden Gedanken auf eine Möglichkeit hin untersucht habe, ob sich etwas ankristallisieren ließe.

Balkon geht heute wohl gar nicht. Gestern früh gab es zuerst einen Schneesturm, das blieb auch nach Sonnenaufgang bis nach elf Uhr so, als ich längst im Schädels saß und Sarah Illenberger mir sagte, sie hätte auf der Party des Zeitmagazins ein schönes Video von mir gemacht und darin sänge ich, wie sie fände: wunderschön ein Lied von Whitney Houston. Ich glaube, es war All at Once. Ich kann mich nicht erinnern. Möglich ist es aber, und warum sollte sie es sich auch ausdenken – um mich zu gaslighten? Dazu ist das angebliche Video doch viel zu harmlos. Ausgezogen habe ich mich dort jedenfalls nicht.

Auf dem Nachhauseweg höre ich dann den Rest des neuen Albums der Antilopen Gang: Gibt es derzeit bessere Texter in Deutschland? Ich glaube nicht. Vor ein paar Wochen war im Magazin der Frankfurter Allgemeinen ein sehr gutes Interview, das Timo Frasch mit Farin Urlaub geführt hatte. Da ging es unter anderem auch um die Dichtkunst, aber leider nicht um dieses Album namens Abwasser. Die kritische Meinung von Farin Urlaub zur Lyrik der Antilopen Gang hätte mich interessiert. Mir gefällt jedes einzelne Stück, no fillers just killers sozusagen, insbesondere liebe ich diesen Vers, in dem Danger Dan entlang der einzelnen Posten seiner Gebrechlichkeit begründet, weshalb es überflüssig sein wird, ihn zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung herauszufordern:

Mich zu boxen ist nicht schwierig

Ich bin leider behindert

Wie es aussieht werde ich

Mit Mitte dreißig erblinden

Das macht mich zu einem Gegner, der

Wenn Du ihm eine Kelle gibst

Nicht ausweichen kann

Zu Boden geht und auch noch Sterne sieht

Mich zu verprügeln ist vergebliche Mühe

Wenn ich ganz normal herumlauf’

Hab‘ ich schmerzende Knie

Mir tut eh alles weh

Von den Füßen bis zum Schulterblatt

Und auch ohne einen Uppercut

Brauch‘ ich einen Zahnersatz

Das macht mir alles derart gute Laune, dass ich, kaum Zuhause angelangt, sofort einen Projektförderungsantrag tippen kann, was ich jetzt schon drei lächerliche Wochen lang vor mir hergeschoben hatte. Am Dienstag ist Deadline und von daher haut das jetzt alles noch pünktlichstens hin.

Inzwischen war aus dem Schneesturm auch ein Sprühregen geworden, was auf den Straßen und Trottoirs natürlich die allerunangenehmste Sauerei erzeugen würde. Dazu herrschte von den Dächern aufwärts betrachtet noch Nebel: insgesamt also kein Wetter, das ich gutheißen könnte, zumal ich in der vergangenen Nacht wegen heftiger Schübe von Gicht oder Arthritis bereits zwei Mal aufgewacht war. Aber mit diesem Schmerz verhält es sich wie mit meinem quälenden Gefühl beim Warten neben dem Telefon: Kaum kommt dann der Anruf, kaum nehme ich die kleine Menge Diclofenac zu mir, ist alles vergessen, was mir bis dahin noch als unheilbar und nicht auszuhalten erschienen war.

Egal, ich ging dann noch einmal zu Markus, weil es dort samstags immer das Ofenhuhn gibt, und aß gleich zwei Teller davon hintereinander mit Kartoffelpüree. Und Moritz saß gleich nebenan, wir ließen die Party Revue passieren, aber er konnte sich an meinen Auftritt als Whitney Houston leider auch nicht erinnern, weil er, und darin schien er mir sicher, selbst gar nicht auf der Party des Zeitmagazins gewesen war.

Zuhause dann bis in die frühen Morgenstunden in diesem schönen, aber halt auch ganz schön traurigen Buch gelesen, in dem die Manuskripte, teilweise auch Briefe, von Schriftstellern daraufhin untersucht werden, inwiefern, in welcher Form und von welchem Ausmaß sich darin deren persönliche Schicksalsschläge manifestiert haben, so diese sich während der Arbeit an den jeweiligen Texten ereigneten. Die Wahrscheinlichkeit ist ja ziemlich hoch, denn an irgendwas schreibt man ja immer. Und wenn es bloß ein Projektantrag ist – oder Tagebuch. Ist auf jeden Fall so faszinierend wie anrührend, so wie bei Bäumen, wenn die durchgeschnitten werden und dann analysiert man die Ringe von innen nach außen und wo es wann eine Verwerfung gab, eine Dürre oder einen Vulkanausbruch.

Einer, ein Mexikaner, inzwischen längst schon vergessen, es gibt ihn nicht einmal mehr bei Wikipedia, hat einen Liebesbrief angefangen, und man merkt, da ist noch das Tastende, mit dem er, anhand dieses Echolots, seine Gefühle für sie erforscht, seine Liebste. Und er formuliert da mit dem, was er ihr schreibt, vor allem auch den Wunsch nach einer gemeinsamen Welt, die es für sie beide geben möge. Bis, so wird es vom Herausgeber erklärt, etwas geschehen sein musste, was ihn von der Vollendung dieses Briefes abhielt. Und zwar wohl für die Dauer von einigen Tagen. Von ziemlich vielen, um genau zu sein. Das lässt sich durch die übrigen Quellen, die der Herausgeber heranzieht, belegen; unter anderem durch die Tagebücher von ihr und von ihm. Unbegreiflicherweise setzt er nach dem ersten Schock und einer Phase des Leidens, in der er sich vornehmlich seinem Tagebuch anvertraut, aber auch einen Freund konsultiert, was sich wiederum durch ein Protokoll jenes Abends in dessen Tagebuch belegen lässt, sowie einer Korrespondenz auf Postkarten, die jener Freund des Liebesbriefschreibers an dessen Liebespartnerin schickt, als all dies also nur wenig Linderung bringt und auch nicht zu fruchten scheint, hinsichtlich einer Versöhnung mit seiner Liebsten, entschließt er sich, den Brief fortzusetzen. Er fängt nicht etwa neu an, er lässt den Anfang unangetastet, wo alles noch anders war, wo sich alles noch ganz anders für ihn dargestellt hatte, auch er selbst übrigens; nun kennt er sich nicht unbedingt besser, aber zumindest von einer anderen Seite, und er wechselt noch nicht einmal die Tintenfarbe oder den Stift. Er zieht auch keine Linie quer über das Papier, oder nimmt in einer Formulierung Bezug auf die Ereignisse vor dem Bruch.

Es ändert sich einzig der Ton. Was er ihr schreibt, bleibt schön und an manchen Stellen ist es wunderlich, etwa, wenn er ihr ankündigt, von nun an in jeder Nacht, vom Einbruch der Dämmerung an, eine Kerze bei sich im Fenster aufzustellen. Man weiß seine damalige Wohnadresse, das war keinesfalls an der Küste. Da gab es kein Meer.

Von etwaigen Antworten ihrerseits scheint sich nichts erhalten zu haben. Ist, wie gesagt, auch schon sehr lange her.