24.11.

In einem Monat ist Heiligabend. Weil ich dieses Jahr früh angefangen habe, bin ich schon bei der dritten Tüte Gewürzspekulatius angelangt. In der Hessenschau wurde gestern das Anschalten der Weihnachtsbaumlichter auf dem Römer gezeigt. Angeblich gibt es den Frankfurter Weihnachtsmarkt schon seit dem 14. Jahrhundert und damit ist er noch traditionsreicher als der in Nürnberg. Das Schaufenster der Buchhandlung hier wurde von vorgestern auf gestern mit Tannengrün und roten Kugeln dekoriert. Der saisonale Tip ist ein neues Werk von Gerhard Roth: Wie das Gehirn die Seele macht.

Es wurde erforscht, wo Menschen den Sitz ihres Denkens vermuten. Ihrem Gefühl nach. Dafür mussten sie kurz nachdenken und sich währenddessen auf die Empfindung konzentrieren, die dieses Nachdenken in ihnen hervorruft. Überwiegend zeigten sie danach auf ihre Stirn, zwischen ihren Augenbrauen, ein bis zwei Zentimeter nach oben versetzt. Dort wird gedacht.

Sie wurden nach den Abmessungen ihrer Gedanken befragt. Zunächst waren sie aufgefordert, an spezifische Menschen, Dinge oder Vorgänge zu denken. Danach sollten sie mit den Händen die Dimension dieser Gedanken darstellen. Einige Gedanken waren so groß wie Schuhschachteln. Also größer als der Schädel der jeweiligen Testperson.

In Praxis IV schreibt Rainald Goetz im Absatz zur Ökonomie des Schreibens: »Je billiger das ist, was man schreibt, umso besser ist es bezahlt. Das klingt paradox, ist aber vernünftig. Billig heißt hier eben auch: brauchbar, passend, richtig. Dadurch steigt die IDEELLE Leuchtkraft aller ästhetisch besonders abenteuerlichen Unternehmungen […]. Der einzige Punkt: Man kann eben NICHT nebenher noch diesen einen Tatort schreiben. Denn das ändert zuinnerst den inneren Text. Und auch die zwei kleinen Auftragskritiken für die taz oder Faz. Und das monatliche Rundfunkfeature, das die monatliche Miete zahlt. All diese Arbeiten, so klein sie auch sind, ruinieren die Kraft und verzehren die Stimme. Es gibt dann keinen WEG mehr. Wenn die Bindung in Kontexten auch ganz konkret nach EINKOMMEN ruft, muß man im Weitermachen funktionieren. Und das ist, ästhetisch, Stillstand, das ist das Ende.«

Geschrieben und niedergelegt im Jahre 98 des vergangenen Jahrhunderts wohlgemerkt. Damals hätte ich gesagt: »Hab dich nicht so«. Hab ich wahrscheinlich auch. Was sich geändert hat seither: Es müssten deren zwei monatliche Rundfunkfeatures sein. Mindestens. Die Mieten sind gestiegen, die Honorare gefallen.

Das Problem des zuinnerst zu beschützenden, inneren Textes besteht. Als sogenanntes Pflänzchen Sprich-mich-weder-an-noch-schau-mir-auf-die-Hände,-Chef, darf er von all dem freilich nichts mitbekommen wie eine von Schwindsucht befallene Figur, ein geniales, dafür aber genetisch vermurkstes Kind. Vermutlich finde ich Marcel Proust deshalb auch am allertollsten: Hier fallen oder fielen Autor, Text und die universale Gestalt des inneren Textes in eins (und verschwanden zwischen schallgedämmten Wänden in der Schrift).

Thomas Melle schreibt eine Antwort per E-Mail aus dem fahrenden ICE*: »Du kennst das vielleicht: Es gibt Phasen, wo alles weggeschrieben wird oder eben hingeschrieben, da der Kanal offen ist - dann wieder welche, wo anderes leider vorrangig ist und die wichtigen Kanäle, die inneren, zu. Man kann nicht öffentlich und gleichzeitig literarisch auf Sendung sein (ich jedenfalls nicht)«.

Klar. Und egal eigentlich am Ende, wie sich der Einzelne seine Gedanken vor Augen führt. Ob blockhaft wie eine Schuhschachtel oder als gläserne Steigleitung, spiralig gewunden teilweise (und an solchen Stellen naturgemäß besonders anfällig für Verstopfungen und Ablagerungen aller Art).

»Draußen ist freundlich« heißt es bei Neu! (Er saß, aß und las).

* Das ist neu, das gab es 1998 noch nicht.