24.5.

Es gibt hier, in Moabit, noch ein Viertel, in dem die Menschen so leben, wie es ihnen gefällt. Zumindest sieht es für mich danach aus. Ein Nebendraußen des innerstädtischen Lebens, in das ich zufällig geriet, weil ich mich noch nicht auskenne (was noch möglichst lange so bleiben möge, denn wenn man sich erst auskennt, sieht man ja nichts mehr bis beinahe nichts. Dann ist es mit den Häusern und Läden und Straßen bald so, wie Peter Sloterdijk es über die Möbel gesagt hat: dass man die kauft, um sie nicht mehr sehen zu müssen.)

Das Viertel, möglicherweise wird es Bergisches Viertel genannt, weil eine breite Straße dort die Elberfelder ist, beginnt so unauffällig wie nur möglich, es wird zu zwei Seiten hin vom Autoverkehr umflossen, nur auf seiner Rückseite, wo kaum jemand geht, fließt die Spree. Dort entlang führt ein schattiger Spazierweg am Ufer entlang, der einst noch vollends als Hansa-Ufer bezeichnet war, seit dem Umzug der Regierung von Bonn nach Berlin hat man den das schöne Viertel von hinten beschließenden Abschnitt in Bundesratufer umbenannt. Das klingt weniger unschön als es sich liest auf den Straßenschildern, und wie zum Ausgleich krümmt sich der Fluss dort in einer darmhaften Schlinge als wönde er sich – oder wünde?

Ein herrlich in die Jahre und dabei heruntergekommenes Lokal, die Restauration und Buffet Zur Quelle stellt zur Straßenseite hin das Portal dar. Ein Schild wirbt für »Wein Schnaps Frühstück«, der Innenraum ist lang und mit dunklem Holz vertäfelt, es gibt ungefähr fünfzig Sitzplätze und selbst um neun Uhr morgens schon sitzen dort welche am Tresen, über dem noch Lampen in der traditionellen Form kupferner Kannen hängen, und haben kleine Pilsbiere vor sich stehen. Aktuell wird dort, die Anzeige ist neben der Reklame für das Frühstück befestigt, eine Tresenkraft gesucht, und weil ich gerade mit Gewinn meine Lektüre des Frühwerks von Eckhard Henscheid abgeschlossen habe, liebäugle ich mit einer Bewerbung, aber. Begibt man sich gleich nebenan in die Seitenstraße hinein, empfängt einen bald Ruhe, die Verkehrsgeräusche werden durch die Bäume mit üppigen Kronen gedämpft, von denen es hier noch so viele gibt wie einst nach der Zusammenlegung in Prenzlauer Berg, wo sie mittlerweile aber größtenteils gefällt wurden, sogar in der Pappelallee die Pappeln sind weg, um überall dort die Parkplatzgebühren so flächendeckend wie nur möglich, und so wenig wie nur möglich durch die dem flächendeckenden Parken hinderlichen Bäume gestört, einkassieren zu können. Die Strategie nennt sich Intensivierung der Parkraumbewirtschaftung. Das tönt sogar in Baumes Ohren friedlich und rustikal, nach rechtschaffenen Bauersleut‘, nach der alttestamentarisch abgesegneten Dreifelderwirtschaft et cetera, aber Bäume haben keine Ohren. Und kein Mensch hört es, wenn die Säge sich in den Stamm der Pappel frisst.

Die erste Quergasse ist zur Schattenseite auf gesamter Länge von alten Rotdornbäumen bestanden, manche Gebäude hier sind burghaft mit nur wenigen Fenstern, die schmal wie Schießscharten sind, die Fassaden geklinkert und gleich am nächsten wölbt sich aus der Beletage ein italienischer Balkon mit einem Fries gedrungener Säulen. Verhockte Kneipen mit winzigen Gastgärten, im Rücken die Mülltonnen für das gesamte Haus, wechseln sich ab mit Neugründungen, also beispielsweise einer Schaubäckerei, was auf eine Beliebtheit des Viertels unter Zugezogenen hinweist.

Insgesamt besteht dieses Viertel nur aus vier bis fünf solcher Straßen. Aus der Luft betrachtet, auf Maps beispielsweise, ähnelt es mit seiner an den Fluss geschmiegten Form einem Kuchenstück. Übriggeblieben, ein westliches Pendant zur Knorrpromenade in Friedrichshain. Die Stimmung ist durchgehend lieblich, aber das wird wohl auch am guten Wetter liegen. Und dass man dort, war man gerade noch am Rand der Hauptverkehrsstraße unterwegs, den zwitschernden Frieden genießt. Wenn erst die ganzen Kneipen und griechischen Tavernen mit Kindermodeläden und Schaubäckereien ersetzt wurden, oder im Winter, der in wenigen Wochen schon kommen wird, sieht es dort gleich ganz anders aus.