25.1.
Die Vereisung Mitteleuropas beinahe abgeschlossen. Aus München gibt es tolle Geschichten: Schon von der Landebahn aus zeigt sich dort das ergreifende Panorama einer geschlossenen Winterlandschaft (-15 Grad). Der See ist zugefroren, betreten soll man ihn nicht. In der Fahrrinne der Verkehrsschiffe, sie ist in etwa fünf Meter breit, dümpelt das von den Schiffschrauben kontinuierlich kleinteilig gehaltene crushed ice. Die übrige Oberfläche ist in eisengraue Vielecken erstarrt wie der afrikanische Wüstenboden auf den Plakaten von Brot für die Welt. Die Eiswüste von Caspar David Friedrich mit ihren erfrischenden Blautönen vor frühlingshaft flatterndem Himmel: ein Werk der reinen Phantasie. Komisch, dass man sich das, zumindest war das in meinen frühen Jugendjahren so, als Poster kauft und übers Bett hängt. Als Wandschmuck diese Eiswüste. Weil es kaum andere Motive gab im Angebot? Gab es schon. Ich erinnere mich auch noch an Salvador Dalí, die Taschenuhren aus warmem Camembert. Und an weibliche Roboter mit Schlitzsonnenbrillen auf, die sozusagen nackt waren, die als Titten zu bezeichnenden Brüste aus spiegelnd poliertem Edelstahl. Mit rot angemalten Lippen.
In der S-Bahn redete die Begleitperson in beruhigendem Tonfall auf ihre kleine Gruppe aus vier sehr jungen Frauen ein. Wie es sich herausstellte, arbeitet sie für das Goethe-Institut. Woher die Frauen stammen, blieb unklar, weil sie auf Deutsch antworten mussten. Vom Akzent her konnte das alles sein, auch Nepal. Vom Aussehen der Frauen aber Nepal ganz sicher nicht. Also Italien. Die Begleitperson erklärt auf eine schöne Umwege nehmende Weise eine Idee, die ihr wohl im Schlaf der vergangenen Nacht aufgegangen war. Sie fände es schön, und fragt die ihrer Erzählung lauschenden Frauen nach deren Meinung, wenn diese damit anfingen, besondere Gegenstände, die ihnen im Lauf eines Tages in die Finger kämen, auch Gegenstände wie Blätter und Zweige, die ihnen am Wegesrand, aber auch Eintrittskarten und Flyer: wenn sie all diese Gegenstände und Fundstücke, möglich wären sogar kleinere Basteleien, verbunden mit ein paar persönlichen Gedanken, zum Tag, zu ihren Träumen auch, welche Nachrichten sie erhalten haben, was sie traurig gemacht hat, was nicht – ich war da schon beinahe an meiner Haltestelle angelangt, der Zug schon im Bremsen begriffen, da hellte sich das Gesicht einer ihrer Zuhörerinnen auf und sie brachte endlich das deutsche Wort heraus: »Tagebuch«.
Was war ich froh. Gibt ja nichts Schlimmeres, als wenn einem ein Wort auf der Zunge liegt.