25.2.

Wenn man viel reist, lässt man auch ganz viel zurück. Orte, klar. Spezialitäten. Aber manchmal dauert es Jahre, und auf dem Telefon erscheint mit einem Schlag eine Nummer mit zwei Nullen, einem Plus und dahinter eine rare Kombination aus Zahlen, die weder auf Frankreich, England oder auf die Schweiz hinweist.

Aramazt habe ich in Äthiopien kennengelernt. Sein Name, das hatte er mir erklärt, bedeutet Zeus, der Göttervater, im Armenischen. Damals lebte ich ein Stockwerk oberhalb seines Schreibtisches, einem aus gelbem Plastik in Form eines Kronkorkens auf roten Füßen. Mein Balkon (fünf auf anderthalb Meter) befand sich direkt darüber, am Horizont zunächst ein Avocadobaum und dahinter die Addis Abeba einfassende Gipfelkette: im Abendlicht der untergehenden Sonne flogen die großen Vögel dorthin.

Damals bin ich auch schon früh aufgewacht. Mit der aufgehenden Sonne, es gab keine Vorhänge, und die Szenerie war dann in der trockenen Saison immer genau so, wie man sich das vorstellt: disneyhaft, bonbonfarben, mit einem Wolkenbild über den afrikanischen Bergspitzen, den Vögeln auf weitgespanntem Schwingen, die von dem anvisierten Punkt her ins Bild zurück auf einen zugeflogen kamen; von diesem Punkt her, in den hinein sie des Nachts noch scheinbarerweise verschwunden waren: Magic. An jedem Morgen aufs Neue. Dieser Effekt verliert sich auch nach Monaten nicht.

Aramazt, von dem ich damals nur seine Stimme kannte, saß dann an jedem dieser Morgen unten an seinem Kronkorkentisch und redete auf mögliche Investoren ein. Das konnten durchreisende Vogelforscher aus Skandinavien sein, italienische Bibelexegeten, Weiße aus Südafrika, Entrepreneure aus dem benachbarten Jemen. Als ein in Manhattan aufgewachsener Armenier mit circa zweihundert Kilogramm Lebendgewicht konnte er seiner im Grunde hohen Stimme den dafür prinzipiell nötigen Nachdruck verleihen, um die Leute von seinem Projekt, einem Dokumentarfilm über die in der äthiopischen Hauptstadt lebenden Armenier, zu überzeugen. Nach ein paar Wochen hörte ich seinen Elevator Speech im Schlaf. Ansonsten biss niemand an. Wie ich gestern erfuhr, ist sein Filmprojekt noch immer »in production«. Unser Kennenlernen im Palasthotel, durch Tocotronic berühmt gemacht*, ist sechs Jahre her.

Das letzte Bild: Er hält seine Hände um meinen Hals fest geschlossen und drückt mich damit gegen die Wand einer DDR-mäßigen Plattenbauwohnung in Kashansis, in der wir damals zusammen lebten; er droht mir, mich umzubringen, wenn ich ihm nicht sofort eine Barsumme im Gegenwert von 100 Euro gäbe (2500 Birr). Sein Atem roch nach Schnaps. Äthiopischer Schnaps war billig. Es gab ihn in den Geschmacksrichtungen Ananas, Cognac oder Anis zu eins fünfzig den Liter. Danach hörte ich von ihm lange nichts.

Er hatte um die einhundert Kilo abgenommen. Ich selbst hatte ihm damals ein Diätprogramm verordnet, das im Wesentlichen aus frischer Ananas und Wasser mit Chilipulver (Berbere) drin bestand. Abends ein äthiopischer Salat ohne Brot. Seit seinem Abflug aus Ä wohnt er technisch noch immer in Armenien. Seine Frau hat im letzten Jahr die Scheidung eingereicht. Er überlegt stark, nach Berlin umzuziehen. Sein Kapuzenpullover ist orangefarben, um den Mund herum hat er noch immer den Bart. Er schaut sich das Manuskript von Marc Degens über dessen Jahr in Eriwan an und angeblich hat sich dort bis heute nichts groß verändert. Letztes Jahr gab es eine staatliche Organisation namens Cleantec, die den Einwohnern der Hauptstadt Mülleimer ausgegeben hatte. Die Mülleimer wurden von den Einwohnern der Hauptstadt Armeniens auf dem Schwarzmarkt verkauft. Untereinander. Aramazt versuchte sich dort bislang als Grafiker für Infografiken durchzuschlagen. Er hat das Bedürfnis, sich für den versuchten Totschlag zu entschuldigen. Ich sage, dass das, was auf der Insel passiert sein mag, auf der Insel verbleiben soll. Und zahlte sein Bier.

* Vulgäre Verse, Wie Wir Leben Wollen, 2013