25.9.

Ganz schön viele Dinge kann die Kamera nicht erfassen. In einem Interview hat Wolfgang Tillmans von einer Begegnung mit einem Gehirnforscher erzählt, den er gefragt hatte, weshalb auf seinen Aufnahmen nicht das abgebildet würde, was er im Moment vor dem Auslösen der Kamera in dem Motiv gesehen hatte; und er hatte dem Forscher gegenüber seinen Wunsch erklärt, einmal das sehen zu dürfen, was sein Gehirn tatsächlich wahrnimmt – an optischen Reizen, bar der seelischen Interpretation. Der Gehirnforscher vermutete: »Das wollten Sie nicht wirklich«.

Vor Sonnenaufgang, heute früh, kurz vor sechs, lag der See unbefahren und glatt, das Boot schnitt in den Spiegel hinein und teilte vom Bug an drei bis vier Wellen ab, die sich bald schon wieder legten. Handelte es sich im Falle Ilses nicht um das lauteste Boot aller Zeiten, ergäbe sich von schräg oben hinten betrachtet ein friedliches Bild. Die Enten, die sich um diese Zeit noch reglos auf der Mitte des Wassers treiben lassen wie schlafend, ließen sich nichts anmerken. Das Phänomen wolkigen Dunstes, für das es das unschöne Wort Wrasen gibt, schwebte über der Wasseroberfläche. Hinter der Brücke trieben zig weiße Luftballons auf dem Abschnitt, der als Kleiner Wannsee kartografiert wird. Anscheinend Überbleibsel einer gestrigen Feier im Haus des Ruderclubs, an dessen First eine Lüftelmalerei in Fraktur meldet: »Vom Wasser haben wir das Wandern gelernt«. Auf den Luftballons ist jeweils die Strichzeichnung eines Brautpaares aufgedruckt, über denen immer drei rote Herzchen entschweben.

Die ideale Stelle befindet sich in einem Delta aus der Fahrspur des Roland von Berlin, dem Hafen am Stölpchensee und seiner Einmündung in den Teltowkanal. Ein Kreuz aus zwei Kondensstreifen begann dort zu leuchten, zwirbelnder Herbstgesang aus den Weiden am Ufer, durch die sich lösenden Wrasen drang flach das orangefarbene Licht der Sonne (das Boot ist zwar laut, kommt aber trotzdem nicht schnell voran). Mein bester Wurm, über Nacht quicklebendig geworden in seiner Mischung aus gekochten Kartoffeln und Ufersand, vemochte erfolgreich zu locken. Allerdings konnte ich schon beim Anschlagen spüren, dass es sich um einen Barsch von weniger als einem Pfund Lebendgewicht handeln würde. Es war sogar weit weniger. Leider aber hatte er den Haken derart tief hineingeschlungen (von einem in sich Hinunter kann bei Fischen ja nicht die Rede sein, es handelt sich um horizontal organisierte Formen des Lebens), dass nur noch die Notschlachtung sozusagen half. Mehr war dann auch nicht. Ein Experiment mit Muschel, die werden hier ja handtellergroß, schmecken aber beim Drüberlecken eher abturnend neutral, wollte nicht fruchten. Dafür halt der Anblick der erwachenden Seelandschaft, in die über die ersten zwei Stunden kontinuierlich Bewegung kommt mit Geräuschen, so als sei über Nacht alles hier tiefgefroren und würde dann Stück für Stück aus der Starre gelöst von der Wärme des Sonnenscheins. Beinahe schade dann, wenn ich den Motor wieder anreißen muss, um heimzufahren, aber nur beinahe. Kalt war es immer noch. Kalt wie, bald schon, im Oktober am Nachmittag. Und noch keine Regenwolke in Sicht. Das wird sich ändern. Vermutlich.

Im Café will ich die Tasse zwischen den Handflächen halten, bis auf die Knochen ist kein Spruch. Jetzt wäre es schön, wenn mir jemand die Zeitung umblätterte. Gerade mal 9 Uhr 30, und ich habe eigentlich schon genug gesehen.