26.4.2019

Am Nachmittag hatte sich vor der Blüte des Titanenwurz eine Warteschlange gebildet. Der das Tropenhaus umgebende Botanische Garten war tropfnass vom Regen, aber unter der gläsernen Kuppel war es dämpfig und warm. In diversen Zeitungen war die Blüte als Sensation aufgemacht worden: zum letzten Mal hatte ein Titanenwurz in Zürich vor 70 Jahren geblüht. Vor fünfzehn Jahren hatte ich, obwohl in der Monatszeitschrift der Deutschen Kakteen Gesellschaft darauf hingewiesen eine viereinhalb Meter hohe Sukkulentendolde verpasst. Den Titanenwurz, laut 20 Minutes »Grösste Blume der Welt«, wollte ich mir nicht entgehen lassen.

Auf der Beschreibungstafel im Tropenhaus, immerhin gehört der Botanische Garten zu den Organen der Universität, stand weniger reisserisch formuliert: »Grösster unverzweigter Blütenstand«. Hätten sich die Journalisten an die Sprache der Wissenschaft gehalten, die stets aufgrund der Sachlage formuliert, hätten sich viele der um den unverzweigten Blütenstand gescharten Züricherinnen und Züricher ihre Enttäuschung ersparen können. Denn auch die Seelensprache des Schweizers ist auf die Sachlage geeicht. So aber flüsterte eine hell gekleidete Greisin »In der Zeitung sah sie grösser aus.« Ihre Begleitung nickte zustimmend, während sie mit ihrem grossen iPhone Bilder machte von der angeblichen Blume. Das Exponat reichte mir bis zum Solarplexus. Überraschenderweise ragte aus der glatt geharkten Erde lediglich eine Art Zucchini, rundlich, auf den nach einer weiteren, hellgrün gefärbten Schwellung der gewaltige Kelch aufsetzte, der ungefähr 65 Zentimeter hoch aufragte und sich in einem Durchmesser von etwa einem Meter geöffnet hatte. Aus dieser Öffnung ragte vom Ursprung des Kelches ein unverhältnismässig langer Blütenstab senkrecht in die Höhe und das dergestalt, dass seine abgerundete Spitze den Rand des Blütenkelches noch um eine Unterarmlänge überholt hatte beim Höhenwachstum. 

Ein Greis mit umgehängter Kamera schnüffelte behutsam an dem gelben Stab, beugte daraufhin seinen Kopf tief in den Kelch hinein, um dann, nun wieder vor der Blüte aufrecht stehend seinen Begleiterinnen zu berichten »Es riecht gar nicht.« Auch andere machten die Probe. Kopfschütteln.

In den Zeitungen war süffisant auf den angeblich widerlichen Duft hingewiesen worden, den der unverzweigte Blütenstand des Titanenwurz verbreitet. Wie verfaultes Fleisch sollte die grösste Blume der Welt nämlich angeblich riechen, um Aasfresser unter den Insekten anzulocken in den tiefsten Kelch des Käferuniversums hinunterzusteigen, um den dort lagernden, weiblichen Blütenstaub des Titanenwurz mit dem vom Kelchrand mitgebrachten männlichen der Pflanze zu vermählen. Aber vielleicht tut sie das wie Jasmin erst bei Sonnenuntergang, wenn das Tropenhaus im Botanischen Garten längst geschlossen hat?

Mit dem lateinischen Namen des Titanenwurz Amorphophallus titanum wurde in der Zeitung freilich ein bisschen frivolisiert. Eventuell hat das auch für Zulauf gesorgt. Mehrheitlich denke ich, dass die landwirtschaftliche Sensation, eine derart rare Blüte zum Knospen bringen zu können, für das Publikum anziehend gewirkt hat. Auch durch den verbreiteten Hinweis, dass die Blüte bloss wenige Tage hält, um dann zu verfaulen. Und aller Voraussicht dann erst wieder in siebzig Jahren, also lange nach meinem Tod zum Beispiel, erneut eine Blüte in Angriff zu nehmen. Um eine Blüte von diesen Dimensionen überhaupt austreiben zu können, muss sich in der zucchinihaften Knolle ein mindestens 20 Kilogramm schwerer Vorrat an Stärke befinden. Der zuständige Gärtner im Tropenhaus befürchtete von daher, dass der hiesige Titanenwurz seine Anstrengung nicht überleben würde, weil in seiner Knolle nur zehn Kilo im Vorrat waren. 

So interessant das alles zu erfahren war, fand ich am enttäuschendsten, dass der Titanenwurz komplett ausschaute wie ein von einem nicht so guten Bühnenbildner hergestelltes Modell eines blühenden Titanenwurz. Sein Kelch aus lila Krepppapier, der Blütenstab aus Bauschaum geschnitzt und mit Plakafarbe angemalt. Das ganze auf einen grünlackierten Gummiball geklebt.