26.6.

Es war zu heiß zum Blutspenden. Der Truck des Deutschen Roten Kreuzes stand von daher wie schmollend (oder wie man in meiner Herkunftssphäre sagt »zum Bossen«) auf dem Vorplatz des Bahnhofsgebäudes herum. Die wenigen Passanten oder Umsteiger ließen das Erdbeerhäuschen ebenfalls links liegen. Darin saß ein mir unbekannter Mann, der mir auf den ersten Blick als sympathisch erschienen war, weil er mich an Gert Fröbe erinnerte. Und an den »Durstigen Mann« auf den Dosen von Tuborg. Aber das lag höchstwahrscheinlich am Wetter und war eine Fatamorgana. Ich schaute mir lange, sehr lange das ergreifende Bild von David Cameron und von seiner Frau an, die versucht hatte, seine Hand zu halten. Dann las ich die traurigen Texte zur traurigen Nachricht. Dann ging ich hinüber zum Erdbeerhäuschen, grüßte, entsicherte die Olympus und sprach den Mann an.

Später erlaubte ich mir den Besuch eines Teils meines Viertels, den ich mir bislang aufgespart hatte, weil ich ja auch auf den Tellern zuerst das aufesse, was ich am wenigsten mag. Dort sah ich ein Haus, an dem standen die Fenster des ersten Stockwerks geöffnet und dort, auf der Beletage hingen an der Wand viele Bilder in weißen Passepartouts. Eines davon aber schief und ich läutete, in der Absicht zu fragen, ob ich es geraderücken dürfte, aber man machte mir nicht auf.

Im Schatten der anderen Seite der Straße schnuffelte ein Basset an den herabgefallenen Lindenblüten. Seine Fellfärbung war ungewöhnlich. Persönlich bin ich nur mit einer einzigen Hündin dieser Rasse vertraut, es ist Grenadine, die in Cagnes-sur-Mer lebt, und die ist, wie man es von den Gemälden her kennt, braun, weiß und schwarz gescheckt. Dieser Basset hier, ein Rüde, war hell und die Flecken im Fell allenfalls Ginger, rötlich, aber nicht Auburn wie das Haar Patricia Reichhardts.

Also sprach ich seine Besitzerin / seine Begleiterin an: ob es sich hierbei um einen Albino handele?

Aber nein – diese Fleckung würde unter den britischen Züchtern als Honeywhite beschrieben.

Honeywhite – sollte ich einmal eine Tochter zeugen können, wäre dies ein möglicher Name für sie.

Die Dame, die mir diese Inspiration geschenkt hatte, erinnerte mich in allem an meine Nachbarin aus Kindertagen (ich weiß, in solchem Zusammenhang schreibt man üblicherweise »unsere Nachbarin«, aber dem ist halt bei mir nicht so). Selma Besserer, so hieß sie (also die Nachbarin, die längst schon verstorben ist), war Biologin, promoviert, sie arbeitete als Lehrerin am humanistisch ausgerichteten Heidehofgymnasium. Sie lebte allein in einem extrem großen Haus, das ein Schwimmbad hatte (weil sie gerne schwamm und es in dem Dorf, in dem wir lebten, keines gab – wozu auch; unter Pietisten gilt Schwimmen, wie alles, was nichts einbringt, als Zeitvertreib und der ist freilich gottlos). Wie auch Frauen, die ohne Familien lebten – mit denen stimmte etwas nicht, die waren noch weniger als einfach bloß gottlos, bei denen handelte es sich angeblich um schadhafte Exemplare, und das on dit über Selma Besserer und ihre Haushaltshilfe Melitta war dementsprechend übergriffig und gleichsam borniert.

Sie hatte mich oft rübergerufen und dann durfte ich in ihrer Bibliothek, die neben dem Schwimmbad über zwei Stockwerke sich erstreckte, in den Büchern lesen und blättern, die es bei meinen Eltern nicht gab (und das waren ziemlich viele). Vor allem illustrierte Bände über Pflanzen und Tiere. Frau Dr. Besserer hatte so eine Art, die mir angenehm war und die sich wie Zärtlichkeit anfühlte, denn sie korrigierte mich selten und nahm beinahe alles, was ich über das Leben herausgefunden zu haben glaubte, ernst.

Mahonienbüsche umgrenzten ihr Grundstück. Der Rest war Rasen, immer korrekt kurzgehalten. Als einziger Baum stand darin eine Trauerweide – im Garten einer Biologin, so denkt man, ginge es eigentlich doch natürlicher zu.

Die Rückwand des Schwimmbades bestand aus Kirchenglas und zeigte bunt und streng gefügt eine Szene aus dem Leben des Franz von Assisi mit den Vögeln. Dahinter verbarg sich die Aussicht auf ein Panorama, von der ich jahrelang angenommen hatte, das es ihretwegen so war, dass wir dort allesamt an diesem nämlich auch in Wahrheit weltfremden Ort siedelten: Kornfelder, der Waldrand von den orangefarbenen Stämmen der Kiefern gesäumt und dahinter: die Friedenshöhe, wo sich durch aufragenden Wachholder, heidehafte Wiesen und Solitäre auf hügeligem Grund ein toskanisches Bild ergab.

Time is fleeting, wie es in der Rocky Horror Picture Show heißt. Ich wünschte, es wäre dem nicht so, aber die Dame mit dem Basset sagte dann plötzlich ganz fürcherliche Dinge hinsichtlich des Brexit. Ganz anders, als ich es innerlich selbst erlebt hatte, ist diese Nachricht für sie ein Grund, um sich zu freuen. Endlich geht es rückwärts! Hinsichtlich: Endlich wird Deutschland gezwungen, sich »vernünftig aufzustellen«. Und sie wird AfD wählen.

Man kann sich ja selbst schlecht gratulieren, wenn man, wie ich, keine zwei linken Hände besitzt. Von daher danke ich Timothy Taylor, der mir gestern das zweitschönste Geschenk gemacht hat, indem er mir meinen verloren geglaubten Füller aufbewahrt, den ich anscheinend auf dem Cafétisch hatte liegen lassen. Werde ich jetzt etwa vergesslich? Ich werde es erleben.