27. & 28.11.

Extreme Schnödesse draußen. Noch nicht einmal mehr bis zum Briefkasten reicht die Sicht. Der Zaunkönig scheint auch wieder ausgezogen. War ihm wohl zu wenig los. Die Nachbarskinder, davon künden Decken und Wände, leiden am Stubenkoller. Von einem Monat auf den anderen wurden sie 80 Prozent ihres natürlichen Lebensraumes beraubt. Nun werden sie, bei kleingeschnittenem Obst und Keksen, in einem Reservat gehalten, viele Wochen lang. Und es herrscht absolutes Fernsehverbot. Nur manchmal, kurz vor Sonnenuntergang, wird der Vorstandsvorsitzende ans Wasser geführt. Er ist vier Jahre alt. Dort angekommen, kippt man ihn mit einer Vorwärtsbewegung aus seiner Karre, woraufhin er widerwillig ein paar Schritte vorführt, um sich danach wieder bettwärts schieben zu lassen. Aber wie es in der Sternbildervorschau für den Dezember hieß, steht uns der kürzeste und dadurch auch dunkelste Tag erst noch bevor: Am 21. Dezember erreicht die Sonne angeblich schon um 10 Uhr 44 den Zenit. Hell ist sie ja die Wintersonne, bloß wärmen tut sie leider nicht.

Aber innen recht freundlich. Ich halte die Vorhänge nun durchgängig geschlossen, weil ich bei Helene Nostitz von ihrem— exakt hier endete der Eintrag für den 27. November 2016, The Year Punk Broke. Beziehungsweise der besagte Eintrag in seiner von mir ursprünglich konzipierten und demnach verfassten Gestalt. Was daraufhin geschah, also mit dieser ersten Fassung des Textes? Ich weiß es nicht. Kann es nicht sagen. Alles, was ich von diesem unbegreiflichen Vorgang mitbekommen habe, war, dass ich die Schaltfläche »Speichern« berührt hatte. Dann längere Zeit nichts, aber als ich mich, bereits im Mantel, überprüfenderweise dem Display des iPads zugewandt hatte, zeigte es mir einen deutlich kürzeren als erwartet, eine gestutzte Version meines Textes an. Ich flippte völlig aus. Dann fuhr ich zum Hauptbahnhof, um Friederike abzuholen, verbrachte aber die nächsten 24 Stunden in Sorge um den Rest meines Textes. Denn der war ja nicht gelöscht, und könnte auf irgendeine Weise wiederhergestellt werden. Etwas war beim Speichern schiefgelaufen. Der dabei weggestutzte Text war futschikado. Perdu. Total im Orbit und weg.

Dort hatte, also dort auf der imaginären Schiefertafel, die, kaum von mir beschriftet, den heranschäumenden Fluten zum Opfer gefallen war, etwas von meiner Begegnung mit Holm Friebe gestanden. Und zwar etwas über Holm in seiner neuesten Figuration als Schnupperaal. So hatte er sich am Donnerstag mir vorgestellt, als wir uns im Hof des Aufbauhauses gegenüber den Prinzessinnengärten begegnet waren. Interessant für uns beide war dann, dass Gunnar offenbar so gut wie gar nichts über Aale wusste. Für Holm, der ja nun der Schnupperaal war, ein willkommener Anlass, um seine Steintheorie am Beispiel der Aale vorzuführen. Es ging um den beschwerlichen Weg der langen Dinger von der Saragossasee bis in unsere Süßwassergewässer; teilweise sogar über Land. Ich mag die Aale geräuchert und dann kleingehackt mit ebenso klein gehackten Radiesschen und Salzflocken auf getoastetem Vollkornbrot. Gunnar mag Räucheraal als Bodensatz in einer Schale cremiger Petersilienwurzelsuppe.

Es war also - wobei, auf die Formulierung kommt es auch noch an - nicht rasend viel an Text, der da nun unwiderruflich verloren gegangen war. Und dennoch: Jedes kleine Stückchen Text, jeder Satz, sobald er einigermaßen steht, hat ein Recht auf Speicherung und Niederschrift. Er soll bewahrt werden vor dem Vergessen, dem Nichts, aus dem er einst gekommen war. Soll also bitte nicht mehr passieren.

Dafür scheint heute die Sonne. Der Himmel ist blau, ohne Wolken. Und die grauen Vorhänge, um die es bei Helene Nostitz ging – sie hatte sie bei Hugo von Hofmannstal in dessen Wiener Wohnung entdeckt und beschrieben, dass Hofmannstal nie seine Vorhänge zur Seite gezogen hatte, um gerade nichts vom Stephansdom dort draußen sehen zu können; nichts vom Wetter oder ob es gerade regnete oder schon wieder nicht, weil er sich durch diesen konsequenten Verzicht auf Welt eine Steigerung seiner Einbildungsfähigkeit versprochen hatte (ähnlich wie Jonathan Franzen, der ja seine Korrekturen mit der Schlafbrille auf geschrieben haben wollte), während ich doch gerade das Gegenteilige mir wünsche: weniger Einbildungskraft und noch mehr an scharfsinnigem Erleben. Lupenhaft. Kristallin. Vorhänge also weg. Auch die für innen. Kaffeefilter ja, trübe Tasse nein danke.

Das liebende Subjekt, schreibt Roland Barthes, erlebt jede Begegnung mit dem geliebten Wesen als Fest. Das Fest ist für den Liebenden, den Träumer, ein Jubel, kein Zerspringen; ich genieße das Festessen, die Unterhaltung, die Zärtlichkeit, die sichere Verheißung von Lust: »eine Kunst des Lebens über dem Abgrund«. (Bedeutet Ihnen das denn nichts, jemandes Fest zu sein?)

Immer wieder Wahnsinn dieses Buch. Aber heller Wahnsinn. Einfach nur gut.