27.1.
»La solitude, ça n’existe pas«, würde es später am Abend in einem Film heißen, der, wie ich mit dem Blick eines Nebendarstellers dort aus dem Fenster realisierte, in einer Berliner Wohnung gedreht worden war, in der ich selbst einmal gewohnt hatte. Diese Wohnung gab es noch immer. Erst neulich war ich an diesem Haus vorbeigegangen.
Zuvor, da war es noch hell gewesen, schauten wir, weil es vom Balkon aus nichts anderes zu sehen gab, auf die Fassaden der anderen Straßenseite. Abschied von den Schweizern, sie erzählten von der Schweiz. Wir kamen auf die Bibliothek von St. Gallen, die ich schon einmal besichtigt hatte und die für mich die schönste Bibliothek war, in der ich jemals gewesen. Aber was ich dort nicht gesehen hatte, war das System aus mehreren Uhren, die durch eine in die Wände eingemauerte Kardanik aus kupfernen Stangen sämtlich miteinander verbunden waren, sodass jede Uhr in der Bibliothek von St. Gallen die genau gleiche Uhrzeit anzeigte wie die große auf dem Turm des Gebäudes, die nach außen hin sichtbar war. Dieses System, so vermutete Enea, vom Prinzip her eine frühe Atomuhr, war mehrere hundert Jahre alt. Wohingegen es in einer weiteren, einer neugebauten Bibliothek in der unmittelbaren Nachbarschaft (noch immer St. Gallen) einen Roboter gibt, der die Bücher sortiert. Weil der Architekt, der diese Bibliothek entworfen hatte, es für unschön befunden hatte, dass in Bibliotheken auf die Bücherrücken ein Inventurskleber angebracht werden muss, hatte der sich ein System ausgedacht, nach dem in die Buchdeckel ein Mikrochip eingeklebt wird, der bei geschlossenem Buch für das menschliche Auge unsichtbar ist. An jedem Abend, wenn die Menschen nach Hause gegangen sind und das Licht in der Bibliothek ausgeschaltet haben, fährt der Roboter an den Regalen entlang und tastet mit einem Lesegerät die Buchreihen ab. Er registriert den Standort jedes einzelnen Bandes. Die zurückgegebenen Bücher müssen von den Bibliothekaren deshalb nie an einen bestimmten Standort zurückgebracht werden, weil der Roboter ihnen am darauffolgenden Abend einen aktualisierten Standortplan liefern wird. Die Bibliothekare tragen die Bücher einfach irgendwohin, wo gerade Platz frei geworden ist. Oder: wie sie lustig sind.
In dieser Bibliothek entsteht, bedingt durch das Ausleihverhalten, eine beständig sich verändernde Gruppierung der Bücher untereinander. Wenn Borges das noch erlebt hätte! Das Auswerten der Standortpläne sämtlicher Tage über einen längeren Zeitraum wäre bestimmt interessant.
Wir waren auf dieses Thema gekommen durch den Besuch eines Vertreters für einen Handschriftenroboter. Die von seiner Firma entwickelte Software ermöglicht es, beliebige Texte einzutippen, oder per copy & paste einzugeben, die dann in einer beliebigen Handschrift dargestellt werden (um sie dann als Bilddatei in ein Layout einzupassen). Korrekturen in der Syntax, der Schreibung und Änderungen des Wortlauts der maschinell erzeugten Handschriften sind problemlos per Tastatureingabe möglich. Das ist der Todesstoß für die Comic Sans.
Der Vertreter kam halt leider ein paar Tage zu spät, da hatten die Schweizer sich schon etliche Zeit mit dem Schreiben und Scannen und Größer- und Kleiner-Kopieren von Handschriften verschiedener Handschriftenkünstler beschäftigt. Was auch schön gewesen war, aber halt anders schön. Nicht unbedingt mühevoll.
Die Arbeit hatte uns zusammengeführt, und die Arbeit war nun beinahe getan. Weihnachtliche Gefühle. Vor uns lag eine Zukunft aus 220 leeren Seiten.