27.10.

Von Hermann Lenzens Vater wurde durch Hermann Lenz selbst dessen Begriff der Wandmüdigkeit überliefert. Ein extrem schönes Wort für jenen anders schwer zu beschreibenden Zustand, in dem ich mich seit Tagen befinde. Dass ein Leben, plötzlich, beinahe schon über Nacht, bei geschlossenen Fenstern und Türen eine derartige Veränderung in meinen Gefühlshaushalt bringen würde, hatte ich nicht erwarten können. Also begann ich eine ziellose Wanderung durch die tropfnassen Waldstücke zwischen den Häusern und erreichte nach einem Weg, der die stadteinwärts führende Schnellstraße entlang ging, das verlassene und bereits zur Hälfte vernagelte Gelände des Zollamtes Dreilinden. Man hatte hier noch zu Mauerzeiten ein Ensemble aus Gebäuden im Stile Fernand Légers errichtet. Die erdbeerfarbenen Klötze mit blassblauen Türen standen verlassen inmitten aufgerissener Parkflächen. Die sonnengelben Jalousien heruntergelassen, einige Fenster sogar eingeschmissen. Hinter den mit Natodrahtspiralen abgesicherten Zäunen war der Waldboden heftig aufgewühlt, weil das hier anscheinend zum Revier der Wildschweine geworden war. Auf dem angrenzenden Parkplatz standen einige sehr große Wohnwagen. Unter den Dächern der Vorzelte wurden Frühstückstische eingedeckt. Im Gebüsch am Wegesrand lagen etliche leere Flaschen, in denen sich vormals Babyöl von Penaten befunden hatte. Unter den Nutten des Zollamtsraststättenstrichs schien das die Marke de rigeur.

Stunden später, da hatte ich bereits den mir bislang unbekannten Ortskern von Zehlendorf erkundet, dabei aber das angekündigte Museumsdorf Düppel aufgrund dichter Nebelschwaden nicht finden können, erreichte ich zwischen der U-Bahnhaltestelle Krumme Lanke und noch vor dem in Sichtweite liegenden Mexikoplatz den Garten eines hübschen Hauses, aus dessen vorgelagerter Rasenfläche ein ansprechend geformtes Leuchtschild aufragte. War aber leider bloß Kunst. Nebst einigen alten und sich unter der Last ihrer Früchte tief herabbiegenden Bäumen, deren im nassen Gras herumliegende Äpfel ich aufsammelte, standen in diesem Garten, insbesondere in dessen hinter dem Haus gelegenen Teil, noch einige Kunstwerke mehr herum. Diese qua Aufstellungsort Garten als Skulpturen ausgewiesenen Gegenstände und Zusammentstellungen von Gegenständen waren, wie in einem Witzfilm aus den achtziger Jahren, lediglich an den in einigem Abstand montierten Erklärschildchen als Kunstwerke zu identifizieren. Solchermaßen als Banause beschimpft zu werden, gefiel mir nun schon wieder gut, wann hat man das schon mal, und die Wandmüdigkeit wich nun zum ersten Mal seit vielen Tagen ein entscheidendes Stück weit aus meinem Gemüt. So musste ich beispielsweise bald laut auflachen, was den in einiger Entfernung mit Laubharken beschäftigten Gärtner kaum aus der Ruhe zu bringen schien. Vermutlich kannte er das bereits zur Genüge. Ich hatte da gerade ein Werk des Künstlers Thomas Rentmeister entdeckt. Beziehungsweise war es erst das Schild, das mich wie in einem der besagten schlechten Witzfilme darauf gebracht hatte, dass es sich bei der Ansammlung verrottender Kühlschränke unter der Kiefer tatsächlich um ein Werk eines Künstlers, eben dieses Thomas Rentmeisters handeln sollte. Dessen Werkgeschichte hatte ich mit dem Jahrtausendsprung etwas aus den Augen verloren. Damals, am Ende der neunziger Jahre, hatte ich in München noch eine Ausstellung seiner Werke besucht, da hatte er aus poliertem Kunstharz sehr dekorative Kleckse und Wülste hergestellt, die unterhaltsam waren und vor allem das Deckenlicht reflektierten. Mittlerweile aber, das stand auf dem Erklärschildchen, das aus dem geharkten Rasen ragte, hatte sich Thomas Rentmeister wohl vollkommen auf verrottende Kühlschränke verlegt und war hauptsächlich für diese Etappe seines Werkes berühmt: »Seit einigen Jahren baut Thomas Rentmeister Skulpturen aus gestapelten Kühlschränken. Er bringt Dinge des Alltags, die der Hygiene und direkt oder indirekt dem Wohl unseres Körpers dienen, zusammen. Statt wie in früheren Arbeiten die Oberflächen und Zwischenräume mit Penatencreme zu füllen« — Wahnsinn! Ich hatte anscheindend zwei ganze Stufen seiner Weiterentwicklung verpasst. Na gut, so nahm ich es tadelnd zu mir: So kann es dann halt kommen, wenn man nicht ab und an die selbstgewählte Zurückgezogenheit in der Einöde ruckhaft abzustreifen sich gewillt zeigt, um, nach einem Ausflug wieder wandlüstern geworden, mit neuartigen Eindrücken dorthin zurückzukehren, von wo aus man vor lauter Wandmüdigkeit schon beinahe wütend auf sich selbst und die selbstgeschaffenen Umstände, aufs Wetter, die Fenster, das Bild vor den Scheiben, ein paar Stunden zuvor noch aufgebrochen war.