27.2.2020

Sebastian schickt Übers Eis von Peter Kurzeck. Die Sendung hatte er längst angekündigt, die Rede war von einem Kleinod. Obwohl es mittlerweile schneit und trotz des Eises im Titel (und auf dem Titelbild) fühle ich mich mit dem Buch an den Spätsommer 2013 erinnert, als mich die Doktoren Süselmann & Döring in ihre Gemeinschaftspraxis zu Marburg und Siegen eingeladen hatten. Spazierten wir da über einen Rasen längs des Trümmerfeldes dieser Universität in Richtung Mensa, als sie beide, unisono mir empfehlen wollten, doch endlich auch Peter Kurzeck zu lesen (damals lebte der auch noch). Habe ich dann aber nicht. Anderes kam dazwischen, dafür hätte vor allem Kurzeck selbst wohl Verständnis gehabt, und vor allem fürchtete ich mich bis vorgestern auch davor, dann gleich alles von ihm lesen zu wollen. Also dass der mich dann gleich für ein ganzes Jahr mindestens blockiert (oder ein paar Monate bloß, dafür die dann auschließlich — was sich womöglich noch fataler auswirken könnte.)

«Gegen mich bin ich machtlos» heisst es in der Erzählung. Es geht um die Ereignisse im Jahr 1983 oder 84, erzählt wird aus Frankfurt. Er lebt in einer Abstellkammer, schreibt dort an seinem Manuskript weiter, weil er zuvor seine Beziehung und seine Wohnung verloren hat. Ich las das Buch gestern nachmittag zuende, an meinem neuen Lieblingsplatz im Café Laumer: Ganz hinten um die Ecke, vor den großen Fenstern zum Garten, wo ein Bogenhanf ins Bild züngelt, gibt es eine Art Abstellfläche, an die man sich aber auch setzen kann. Dorthin flüchte ich derzeit für zwei Stunden, wenn die Putzfrau kommt. Ich finde das Wort Raumpflegerin zwar schöner, es erinnmert mich kurioserweise an Astronauten (wegen Raumfahrer vermutlich), aber tatsächlich so empfinden, also tatsächlich Raumpflegerin sagen, wenn ich Putzfrau meine, könnte ich nicht.

Und eigentlich liest man dieses Buch auch nicht zuende, man wacht daraus auf. Es ist wie ein Traum, kein besonders schöner. Irgendwann wurde mir klar, dass er in Schleifen im Kreis herum erzählt — wie man eine Blume zeichnet. Der Text erzählt nur einen vergleichsweise kleinen Ausschnitt des Bildes; er kreist es ein. Kurz vor dem Aufwachen schaute ich auf ein Bild dieses Jahres, das wie eine Langzeitbelichtung war, derentwegen ein Blitz die nächtliche Landschaft ausleuchten kann.

Es gibt kaum Bilder von aussen, obwohl er viel zu Fuß unterwegs ist, wobei er zugleich seine Schuhe schonen will, denn es ist da letzte ihm noch verbliebene Paar. Einmal erinnert er sich an einen Besuch bei Bekannten zu Silvester, da zieht er mit Frau und Kinderwagen durch eine eiskalte Gegend, um die Fahrtkosten zu sparen, zu allem Überfluss befindet sich im Gepäckfach des Kinderwagens auch noch ein eiserner Bräter mit einem kostbaren Schmorgericht, dem Gastgeschenk. Der Weg gestaltet sich mühseliger als gedacht, irgendwann explodieren Knaller und Heuler ziehen ihre Leuchtspuren, das Kind schläft wie erfroren im Wagen über dem Gulasch. Die Erwachsenen reden kein Wort mehr miteinander vor Anstrengung, es scheint alles sinnlos geworden, ganz allmählich hat sich die Szenerie des Erinnerungsbildes aus den achtziger Jahren in eine von Flucht und Vertreibung verwandelt.

Am Ende war ich wieder dort, wo ich angefangen hatte zu lesen, aber ich erkannte kaum etwas wieder. Wirklich wie beim Aufwachen nach einem Traum.