27.9.

Die aus mir unbekannten Gründen verursachte Stauung im Auslieferungszentrum Berlin hatte sich offenbar mit einem Mal, und dies wohl in der Nacht von Sonntag auf Montag, gelöst, und so trafen über eineinhalb Stunden des Vormittages verteilt sämtliche von mir in der letzten Woche bestellten Waren kurz nacheinander ein: der Badezusatz, die Kuchenform und mein neues Bett. Nun stand ich vor einem veritablen Entsorgungsproblem, denn allein der Karton, in dem mir der Badezusatz von Amazon verpackt worden war, bestand auch im zersägten und gefalteten Zustand noch aus derart viel Pappe, dass die soeben erst geleerte Papiermülltonne bereits wieder zur Hälfte gefüllt war. Von der Verpackung des Bettes ganz zu schweigen.

N’importe quoi, selbst den Boten der DHL, mit deren Mitarbeitern in diversen Callcentern ich mir in den letzten Tagen einige ziemlich verschärfte Auseinandersetzungen geliefert hatte, hätte ich am liebsten umarmt und auf einen Kuchen aus der neuen Form hereingebeten (wenn er denn erst fertig war, die Zutaten standen dort schon seit dem Wochenende bereit); dem der Dynamic Parcel Distribution machte ich tief empfundene Komplimente für seine tiefrote Uniform mit perfektem Sitz. Überwältigende Freude, später vor allem Erleichterung, als ich endlich, wieder allein, aber dafür umringt von meinen vermissten Waren, zur Ruhe kam.

Zustände, wie sie Thomas Melle in seinem Die Welt im Rücken beschreibt. Hatte ich anfänglich während seiner Einleitung noch die Befürchtung, der Text könnte sich in eine Art kommentiertes Protokoll einer seelischen Erkrankung entwickeln, wurde ich vom Gegenkonzept überrascht. So etwas hatte ich bislang nur bei Unica Zürn gelesen. Ja, ich glaube, es gibt nur einen einzigen Text, der es mit Die Welt im Rücken aufnehmen kann, im Sinn einer formalen und inhaltlichen Vergleichbarkeit, und das ist Der Mann im Jasmin. Was mich dort schon fasziniert hatte, wiederholt sich bei Thomas Melle auf krasseste Weise: die Art der Beschreibung, die Schönheit der Sprache, die Begebenheiten sind wie funkelnd, sie locken, und gleichzeitig stoßen sie ab, wirken fürchterlich, aber der Text lässt mich nicht los. Andauernd, immer wieder, aber mit einem überraschenden Rhythmus, gibt es Stellen, die mich kurz an das eigene Empfinden denken lassen; Stellen wie »Am Tag, nachdem ich mich aus der Klinik entlassen hatte, sprang ich um vier Uhr morgens aus dem Bett, war sofort knallwach und begab mich noch in der Dunkelheit, gespreizterweise Novalis‘ ›Hymnen an die Nacht‹ im Kopf zitierend, auf meine fieberhafte Wanderung durch die Stadt in Richtung Steglitz, landete um acht bei Magda und ihrer Schwester am Frühstückstisch, der schon wieder aufgeräumt werden musste, da die Leute im Gegensatz zu mir noch immer normal studierten. Und stampfte also weiter bis an die Stadtgrenzen und fragte mich, nun wenigstens körperlich müde, was um alles in der Welt eigentlich in die Welt gefahren war. Es fühlte sich allerdings auch gut an, ihr meine überschüssige Energie, die sich jahrelang aufgeladen hatte, verschwenderisch zurückzugeben.«

Kenne ich, hab ich ab und an auch mal. Aber halt nicht andauernd und rund um die Uhr, und das auch nicht noch über viele Monate lang. Es ist schwer vorstellbar, wie ein Mensch das auszuhalten schafft. Also auch schon rein körperlich. Brisanterweise spart Thomas Melle in seinem Text die Beschreibung dieser Erschöpfungszustände nahezu aus. Der Text rast, singt, jubelt in einer Beschreibung zweifelhafter Höhenflüge; die Außenperspektive, herangeweht durch Passanten, Premierengäste, Freunde und immer wieder zwischendurch auch seitens der Ärzte diverser Notaufnahmen der Psychiatrie, erscheint schemenhaft, vorbeiziehend, wie durch ein schlieriges Fenster betrachtet bei ungebremst rasender Fahrt. Sämtliche bereits erschienene Bücher des Schriftstellers treten ebenso auf, seine Theaterstücke, ein Versuch, William T. Vollmann zu übersetzen, der scheitert, ein anderer, der gelingt, etliche Preise, für die Thomas Melle nominiert war, eine Reise zum Dichterwettbewerb: alles mehr oder weniger under the influence.

Bei Unica Zürn gibt es eine Szene, da ist sie am Flughafen und fühlt sich von einem Garderobenständer verlockt, er scheint zu ihr zu sprechen und bittet sie, sich in sein Gestell hineinzuflechten. Sie gehorcht, das Gelingen des Hineinflechtens ihres Körpers in diesen Garderobenständer beschert ihr unsagbare Glücksgefühle. Dass sie von Sicherheitsbeamten herausgeflochten wird, um abgeführt zu werden, bekommt sie nur am Rande mit. Ich weiß noch, wie ich diese Beschreibung wieder und wieder gelesen habe, weil sie so gut war. Und es gab noch einige mehr davon im Mann im Jasmin. Bei Thomas Melle besteht der gesamte Text aus solchen Beschreibungen von zweifelhaftem Reiz. Ich kann mir sogar vorstellen, dass es Leser gibt, die das Buch entkräftet zur Seite legen werden, weil sie es einfach nicht hinkriegen, physisch, noch eine weitere Seite umzublättern. Aus Mitleid vielleicht, oder aus Furcht. Wann aber gibt es schon ein Buch, dass eine solche, vom Gefühl her moralische Entscheidung für oder gegen sich selbst, für oder gegen den Text aufwerfen kann?

Es stimmt schon, was ich gestern geschrieben habe: Man sollte vorsichtig sein, womit man sich füttert. Ein nicht zu unterschätzender Einfluss geht von Die Welt im Rücken aus, es strahlt sozusagen. Zumindest geht es mir so. Euphorie, Begeisterung beispielsweise beim Hören eines seltenen Vogelgeräusches, dort oben in einem schönen Winkel der Baumkrone, gerade jetzt, wo doch die Sonne, die eben noch, im Moment, als sie aufging, mit diesen langen, wie mit dem Brotmesser gerissenen Streifen am Himmel – zumindest noch während ich dieses Buch lese, und ich habe, zum Glück!!!, noch mehr als einhundert Seiten vor mir, nehme ich das Gute in meinem Gefühlsleben auch gleichzeitig als eine Warnung zur Kenntnis. Das Rauschhafte, so schön es sich liest: Was wäre, wenn es für immer so bliebe?

Ein Jahr war ich noch glücklich und gleichzeitig auch immer ein wenig traurig, weil nach der Stunde zwischen Frau und Gitarre anscheinend so rein gar nichts mehr nachzukommen schien. Und jetzt, knapp ein Jahr später ist die Traurigkeit vorbei und es gibt, nun tatsächlich schon, wieder ein solches grandioses Buch, das ich wahrscheinlich gleich noch einmal von vorne lesen werde, wenn ich, meinen Berechnungen zufolge, heute Abend an seinem Ende angelangt sein werde. Die Welt im Rücken ist Die Stunde zwischen Frau und Gitarre 2016 für mich.