28.9.

Ein Satz aus der Zeitung, eine Überschrift, begleitet mich bei meiner Fahrt durch die Stadt: »In den Türmen herrscht Kopfzerbrechen, wie man sich frisches Kapital besorgt«. Auf der Choriner Straße, linke Seite, fällt mir ein aufrecht hingestellter, in einer durchsichtigen Platiktüte verpackter Stapel Postkarten auf. Es sind 59 Stück, so gut wie neu. Die Rückseite gibt als Hersteller den VEB Bild und Heimat, Reichenbach im Vogtland an. Bis auf wenige Doubletten sind die Motive unterschiedlich und zeigen jeweils Paare, überwiegend aus Männern und Frauen, die in einer für die jeweilige Epoche typischen Mode gekleidet sind. Der Reigen beginnt mit dem dreizehnten Jahrhundert, »Gotik, Zeit der Ritter und Troubadoure«, und endet naturgemäß mit dem Ende des VEB Bild und Heimat im zwanzigsten. Dort aber, so jedenfalls die Auswahl, im Jahr 1928: »Entwicklung des Sports nimmt Einfluß auf die Mode«. Abgebildet sind zwei lange, schlanke Frauen in enganliegenden Schluppenblusen und engen, am Saum auffächernden Röcken, die eine blond, ganz in Orange mit weißen Punkten, die andere braunhaarig, in Türkis mit königsblauen Handschuhen und passendem Hut mit schmaler Krempe. Bei tragen ihr Haar in Pagenkopffrisuren. Die Blonde trägt zitronengelbe Handschuhe, die lange Fingerspitzen machen, und hält in ihrer Rechten einen Windhund an der Leine, mit der Linken hält sie ein Portemonnaie fest. Die Illustration wurde von Gisela Röder aus Berlin angefertigt. Die anderen stammen überwiegend von Maria Orłowska-Gabryś. Sie pflegte einen dokumentarisch genaueren Stil. Weniger unterhaltend. Die Gesichter, die sie zeigt, wirken ernst, beinahe freudlos auf mich, so als sollten die gezeichneten Dressmen und Mannequins die Probleme ihrer Zeit (Kindersterblichkeit, Krankheiten, Kriege) zum Ausdruck bringen, um die Buntheit der Stoffe, die teils bizarren Schnitte, Kopfbedeckungs- und Schuhmoden zu konterkarieren. Bei Gisela Röder leben die Zeichnungen von einem abstrahierenden Schwung, der die Proportionen idealisiert, um die Eleganz der Mode zum Vorschein zu bringen. Eigentlich kann, geht man von ihrem Stil aus, der ja bis heute die Modezeichnungen bestimmt, erst seit dem 20. Jahrhundert von Mode die Rede sein.

Wobei auf der Karte »Burgundische Mode um 1460 – Steigerung der gotischen Mode«, ebenfalls von Gisela Röder, ein Paar mit swag zu sehen ist: Sie in einem mehrfach auf dem gedachten Boden aufwallenden Kleid in gemustertem Gold, aus dem ein saphirfarben gerahmtes Dekolleté extrem herausragt (um den Hals ein Choker aus goldenen Ringen). Ihr Gesicht im Profil, sie schaut einen Falken an, der auf seinem rechten Unterarm Platz genommen hat. Von ihrem Haar fällt nur eine einzelne Locke dicken braunen Haares aus ihrer Kopfbedeckung, die in Dimension und Form exakt einer handelsüblichen Schultüte entspricht und von deren Spitze ein Schleier herabweht, dessen Ende ihr noch gut einen halben Meter lang über den Unterarm reicht, also in etwa bis an ihre Knie. Auf ihren Wangenknochen zeigt sich ein kreisrunder Rouge-Fleck. Wohingegen er sein Gesicht abgewandt hält, der Betrachter schaut auf seinen Hinterkopf, der unter einer roten Mütze mit aufragendem Bug von ebenfalls braunem Haar bedeckt ist, das ihm über den Nacken fällt. Ein mit Kellerfalten reichlich gerafftes und extrem tailliertes marineblaues Oberteil, das nach der Taillierung noch einmal sehr kurz, aber dafür umso heftiger auskragt nach allen Seiten. Darunter eine eng anliegende rote Hose, eine Art frühe Legging, die in schwarzen, extrem langen Schnabelschuhen wahrlich mündet. Sein einziges Accessoire ist der Falke. Schaut man ganz genau hin, lässt sich am Kragen, unterhalb des langen Nackenhaars, ein dreieckiges Stückchen Stoff in einem dunkleren Blau entdecken, das über den Rand des Kragens lappt und so an eine  frühe Form des Hoodies sozusagen gemahnt.

Klar nehme ich die mit. So ist es ja schließlich gedacht, dieses System, nachdem die Anwohner etwas in ihre Hauseingänge hier legen oder stellen, auch werfen, wenn sie es nicht mehr behalten wollen, aber die Gegenstände und Dinge ihnen noch zu gut erscheinen, um sie wegzuschmeißen. Aber ausgerechnet Postkarten. Und dann sämtliche noch wie neu, keine davon beschrieben. Ob das ein Zeichen ist? Soll ich 59 Postkarten schreiben?

Das Buch von Thomas Melle, das merke ich noch mehrfach an diesem Tag, hat eine lebensverändernde Wirkung. Nicht drastisch, aber vor allem durch eine minimale Verschiebung der gewohnten Wahrnehmungs- und Reflexionsmuster, durch eine winzige Verschiebung des Partikulars, wirkt es so stark. Beispielsweise wenn es um die Selbstwahrnehmung geht, ums magische Denken, das einem bis dahin eher unterlaufen war oder zugefallen, passiert.

Abends schaute ich mir die Dokumentation von Stephen Fry an, »The Secret Life of the Manic Depressive«. Medium interessant, aber dann stellenweise wieder überhaupt nicht. Film halt. Ich bleibe beim Buch.