29.11.2019

Vor dem KaDeWe harrte einer in genuflexio duplex aus, einer Geste des Bittens. Vor Jahren schon hatte man ihm beide Hände amputiert. Eventuell also ein Taschendieb im früheren Leben, ist er seitdem zum Betteln verdammt. Sein Gesicht tief zu Boden geneigt, wo die kleine Schale steht. Ich dachte an eine Skulptur, an ein Gemälde von Eliza Douglas, nicht an Lessing, um ehrlich zu sein.

In der Schlemmerabteilung erkannte ich nichts wieder. Ich war dort, auf dieser Etage, von deren Fülle mir schon mein Vater vorgeschwärmt hatte, zuletzt vor siebzehn Jahren gewesen. Ich erinnere die damals üblichen Westberliner Gestalten mit Blauverlaufs-Brillen und gelben Pullundern, die Pilsbiere tranken, und die Frauen behielten drinnen die Hüte auf. In meiner Erinnerung war es dort labyrinthisch und vollgestellt mit Tortentresen und Kochinseln und die Fenster zur Aussenwelt waren mit einer Fototapete vom Novemberhimmel abgeklebt.

Das gibt es jetzt alles nicht mehr (bis auf den Himmel), die Souvenirs an Westberlin wurden, wie es bei Moritz von Uslar heisst: in den Keller geräumt. Die vorherrschende Farbe für Wände und Einbauten in der neuen Schlemmerabteilung ist, global betrachtet wenig überraschend, schwarz, in den Bistrots sind die schwarzen Lampenschirme auf ihrer Innenseite mit Goldbronze beschichtet, in den Schauküchen sind die Wände mit einem Fliesenspiegel aus Subway tiles verkleidet — wie man das halt heute so macht.

Der Fotograf hatte einen wölfischen Hunger mitgebracht (und eine Kamera, die aber nicht zuverlässig funktionierte, weil er sie, in Wien übrigens, «in einem Vintage-Shop» gekauft hatte — wie man jetzt offenbar zum Flohmarkt sagt); Hunger und Ärger hatten eine kleine, aber dräuend wirkende Regenwolke erzeugt, die ihm — wie in einem Comic — anstelle eines Heiligenscheins knapp über dem Kopf stand und ihm magnetisch schwebend nachreiste, wo auch immer er sich hinzubewegen versuchte. Von daher nahmen wir im erstbesten (von den Rolltreppen aus gesehen) Bistrot Platz, der «Schwemme» und bestellten das Wiener Schnitzel, das laut Speisekarte preisgekrönt war und ein Backhendl, das zwar bislang sieglos geblieben war, aber wohl mit Fleisch von Hühnern aus Paderborn zubereitet wurde. Und von Paderborn wusste ich im Gegensatz zum artverwandten Osnabrück bis dahin noch so gut wie gar nichts, ausser dass die dort stockkatholisch sind; ich war auch selbst noch nie in Paderborn, aber der Fotograf stammt von dort.

Nach dem Festmahl (vom Preis her, man hat sich für die Preisgestaltung der «Schwemme» zweifellos vom Erfolgsmodell des «Grill Royal» inspirieren lassen und bietet die einzelnen Beilagen im Baukastensystem an, bei dem alles extra kostet — und wer isst schon sein Schnitzel nackt?), streiften wir durch die weiten Gänge, im Grunde ist es nur ein einziger, der natürlich gegen den Uhrzeigersinn (beim Skifahren kann ich auch bloss Linkskurven) an weiteren Bistrots mit den Themen «Italien», «Frankreich» bzw «Fisch» zur Rechten vorbeiführt, während auf der anderen Seite das hungrige Aug‘ sich vom Angebot in den schwarzen Regalen verführen lassen soll. Dann weitet sich der Gang in eine veritable Landschaft aus Schnewittchensärgen, unter deren gläsernen Hauben sich die Gesamtheit der Meeresbewohner an Stränden aus zertrümmertem Eis sozusagen aalt. Ich habe mir das bis vor kurzem erst extrem gerne angeschaut: die Farben, die Augen vor allem, wie sie alle so still und starr ruhen. Dann aber las ich einen Aufsatz in der Fachzeitschrift für Schmerzforschung «Pain», mit dem die durch Kurt Cobain popularisierte These («It’s okay to eat fish/ Because they don’t have any feelings») als widerlegt gelten muss, weil Fische halt doch ein Schmerzempfinden haben. Das wurde unter anderem dadurch erforscht, dass den Probanden ihr Fluidum schrittweise mit Essig versetzt wurde. Bis sie sich wanden. Wenn Fische also Schmerzenslaute äussern könnten, dann würde es auf der Schlemmerstation des KaDeWe unbotmässig laut. 

Doch würde das dem Anbieten der Träger von Scheren und Flossen auf den Fluren des KaDeWe Einhalt gebieten? W.k. wie mein Vater zu sagen pflegt. Wohl kaum. Russen lieben nun mal Fisch. Das Brötchen mit Lachstremeln kostete 8 Euro. Es schaute sehr appetitlich aus.