29.7.2020

Als Diether Diehm vom weichen Wasser sang, gab es noch keine Online–Community. Der fibröse Haufen wurde damals vor allem von Niklas Luhmann vorausgesehen; und eher als Albtraum einer Gesellschaft, die nur in Kommunikation besteht. Jetzt hat Nick Cave vorgestern in seinem wöchentlichen Newsletter die Frage eines Fans nach dem Hersteller eines bestimmten Konzertflügels beantwortet, den er für die Aufzeichnung seines Online-Konzertes «Idiot Prayer» von einem Verleiher bekommen hatte. Die Reaktion auf diesen Newsletter hat heute die Versendung eines zweiten Teiles notwendig gemacht; nummeriert wurde dieses Postscriptum mit #107 pt. 2 — einmalig in der besagte 107 Briefe umfassenden Geschichte der Red Hand Files. In seinem Brief #107 hatte Nick Cave von diesem Flügel des bis dahin ihm noch nicht bekannten Herstellers geschwärmt, dieses Schwärmen auch ironisch übertrieben und eine kleine Geschichte hinzugedichtet, die sich — für den erfahrenen Leser erkennbar — auf ebenso ironische Weise mit der Tatsache auseinandergesetzt, dass es zwar Musiker gibt, denen Zimbeln für ihre Schlagzeugbatterien oder die Saiten für ihre elektrische Gitarren gesponsert werden, aber für Konzertflügel gibt es diese Freigiebigkeit wohl nicht. Das war lustig zu lesen und auch für nicht Klavierspielende unterhaltsam (ich denke da konkret an mich). Trotzdem wurde der Text zwar nicht millionenfach, aber doch so sehr und wie für unsere Zeit typisch: heftig mißverstanden, dass besagter Hersteller mit EMail bombardiert wurde, mit der  ihm ein Angebot gemacht werden sollte, dass er nicht mehr lange ablehnen können würde. In seinem Postscriptum #107 pt. 2 bittet Nick Cave deshalb seine Leute, die er kaum kennen wird, darum, ihr Candy Storming einzustellen. Er tut das mit den wohlüberlegten Worten «The tsunami of mail has left our friends at Fazioli a little shaken, so while I love you all — no more mails to Fazioli please! They are wonderful people.»
Der letzte Satz scheint mir wesentlich. Ich kann mir vorstellen, was los wäre, wenn dort auch nur durch leiseste Gesellschaftskritik noch Raum zum anonymen Moralisieren gegeben würde.
Luhmann, 1989: «Wir müssen viele Entscheidungen aus dem Themenbereich der Moral herausziehen. Das hängt mit der Struktur der modernen Gesellschaft zusammen. Mit ihrer Komplexität, mit der Vielseitigkeit von Leidunterscheidungen — in der Wirtschaft, im Recht, in der Politik, in der Religion, im Sport, im Krankenwesen und so weiter. Immer können diese Grundunterscheidungen — gesund / krank, Regierung / Regierte oder Regierung und Opposition — nicht in ein Moralschema gepresst werden. Sodass Moralisieren eigentlich nur eine Hilfstechnik ist, gleichsam eine fieberhafte Immunreaktion der Gesellschaft auf Probleme hin, die sie anders nicht lösen kann. Und wie die Mediziner dann wissen: Fieber ist nicht ungefährlich.»
Was mir beinahe überall fehlt, ausgenommen daheim, ist Humor. Oder wie Luhmann auf die Frage nach den Kritikern, die er am meisten fürchtet, geantwortet hat: «Die dummen».

Abends Die Angst des Tormanns beim Elfmeter. Der erste Farbfilm von Wim Wenders. Nach der Vorlage des einzigen Buches von Peter Handke, das ich nie gelesen habe. Auch im Jahr meiner Geburt wurden die Frühstückseier noch mit dem Messer aufgeschnitten. In einer Supermarktszene erkenne ich die Waschmittel-«Trommeln» wieder: Dash, Ariel — wie tote Verwandte auf einem Familienbild. Und dass es damals diese sehr dünnen, sehr biegsamen Strohhalme aus Plastik gab, die hellblau waren und in der Limonade obenauf trieben. Der Film spielt in Österreich, aber Waschmittel und Halme gab es so auch bei uns. Die Dialoge sind so, dass klar wird: Die Menschen reden aneinander vorbei, sie reden bloß aus Aggressivität miteinander. Die Gesellschaft existiert nicht, weil es keine Kommunikation gibt. Luhmann und Handke haben sich nicht gekannt.