30.11.2019

Mittlerweile war es Black Friday geworden, der in diesem Jahr auf einen Friday For Future gefallen war, aber als ich mich mit dem Fotografen in der Schlemmerabteilung des KaDeWe auf die abwärts führende Rolltreppe begab, war die Erzählzeit noch die eines Vortages. Eine wirkliche Neuheit, die der grosse Umbau gebracht hatte, war das Verschwinden der Kassen. Wir fanden dort jedenfalls keine mehr. Auch hatten wir, von den Gästen in den Bistrots abgesehen, auch keinen einzigen Zahlungsvorgang beobachten können. Die Kassen oder Zahlstellen waren entweder tatsächlich verschwunden wie in wegrationalisiert — wozu dann aber die Preisschilder? — oder aber sie waren mitsamt des zuständigen Personals, den Kassiererinnen und Kassierern, in die neue Innenarchitektur integriert worden und somit an der Oberfläche unsichtbar. Fragen hätte man freilich können, bloss wen? Hier und da standen schwarz Uniformierte herum, schwarz wie das Inventar: etwa die? Von daher hatte der Fotograf einer von ihm sogenannten Einfachheit halber die einem der schwarzen Regale entnommene Phiole mit aus Mexiko nach den Vereinigten Staaten exportierten, dort abgefüllten und daraufhin nach Europa verschifften Maiskörnern, aus denen er sich beim netflixen Popcorn zu machen gedachte, mit in eine unter der Schlemmerabteilung gelegenen Etage mitgenommen. Hier wurde Damenoberbekleidung ausgestellt, und die Zahlungsstelle ragte ob ihrer Glanzlosigkeit und der Unflauschigkeit ihrer gänzlich auf Pelz und Mohair verzichtenden Bauweise wie ein Fremdkörper aus dem wie um die Wette schmeichelnden Bunt. Die Frau, die sich aus einem bungalowförmigen Shop-in-Shop der Marke Jil Sander zu uns herüber an diesen schmucklosen Tresen bequemt hatte, begutachtete die Phiole voll Mais und beschied uns abschlägig: Solcherlei könnte auschliesslich auf der von ihr als «Lebensmittelabteilung» bezeichneten Etage erworben werden. Auf die Frage wiederum, wo denn dort genau, musste sie passen: Sie war noch nie dort. 

Sagenhaft. Wovon sie sich wohl ernähren mochte; was dieses Geschöpf unter Schlemmereien verstand?

Der Fotograf weigerte sich indes, lediglich der Zahlung seiner Maiskörner wegen noch einmal hinauf zu fahren — was wiederum mich an meinen Vater erinnerte mit seiner hartnäckigen Weigerung, auf Spaziergängen auf demselben Weg heimzugehen, auf dem man zu einem Ausflugsziel gekommen war. Weshalb wir uns dann mit schöner Regelmässigkeit in den uns wildfremden Wäldern in der Schweiz, in Frankreich und anderswo verirrten. Derzeit und gerade befanden der Fotograf und ich uns zum Beispiel wie schlagartig vor einem Balenciaga-Stand. 

«Alles gut bei Euch?» rief die extrem junge Frau, wohl noch Schülerin, während der Fotograf den Versuch unternahm, einen winzigen Hund aufzunehmen (mit seiner Kamera), der an einer Leine und noch weiter unten von einem mit Strasssteinen besetzten Halsbald gehalten wurde und auf der lavendelfarbenden Auslegeware auf dem Vorplatz des Balenciaga-Standes eine Art Headspin aufführte (ich tippte innerlich auf Verwurmung). Aber die in Wien gebraucht gekaufte Kamera streikte, versagte den Dienst, fuhr ihr Objektiv ein, anstatt das heitere Hundsbild zu bannen. Der Strass auf dem Halsband war zum Schriftzug Moschino angeordnet. Der Fotograf knurrte. Das war Insta-Gold.

Um den Eindruck, wir wären nicht ganz dicht, weitgehendst zu zerstreuen, fing ich eine Fachsimpelei an mit der Einkaufshilfe. Freudig sprudelte diese los, dass just heute die Frühlingskollektion eingetroffen war, die sie nun ganz allein auszupacken und auf Bügel zu hängen beauftragt.

«Belastend», mutmasste ich. Mutmasste vor allem, dass man derzeit noch «belastend» sagt bei solcher Gelegenheit.

Sie aber sagte — «Alles gut.» Und zeigte mir einen der potentiellen Verkaufsschlager aus dem Mastermind von Demna Gvasalia: Ein Pullover, mit extrem langen Ärmeln, der immer enger wird, je häufiger man ihn trägt. Während ich noch wie ungläubig das synthetisch wirkende Gewebe betastete, machte sie rasch ein Foto von sich. Ich wünschte ihr noch «Happy Unboxing». Der Fotograf war inzwischen wieder so weit.

Der Weg ins Freie führt wie bei sehr vielen Kaufhäusern auch im KaDeWe durch die Kosmetikabteilung mit ihren dem Natürlichen an sich in seiner Mannigfaltigkeit nachempfundenen Düften. Inmitten meiner Erläuterung eben dieser meiner Theorien bekam ich im Vorübergehen mit, wie eine der Kaufberaterinnen dort zu ihrer Kollegin sagte: «Ist das nicht der Fabian Hinrichs — der mit der Kamera?» Woraufhin diese wiederum sagte: «Der andere ist jedenfalls dieser Dieter Dittrichson.»

«Diedrichsen heisst der aber, glaube ich. Dietrich Diedrichsen.»

Die andere, schon googelnd: «Wie schreibt man das?»

«Na, so, wie man es spricht!»

Der Wachmann liess den Fotografen anstandslos passieren. Der Mais war offenbar nicht mit einer Diebstahlssicherung versehen worden. Da fragte ich mich, ob es den Tatbestand des Mundraubes überhaupt noch gab. Da der Fotograf in Richtung Flughafen weitermusste, um am Abend rechtzeitig in Nizza einzutreffen, steuerte ich alleine das Café Einstein an, wo es um diese Zeit vor dem ersten Advent die herrlichen Gänsebratwürste gibt. Nicht gerade billig, aber schliesslich war dies meine Abschiedswoche von der Stadt Berlin. Mein Weg führte mich bezeichnenderweise über den urnischen Weihnachtsmarkt auf dem Nollendorfplatz, der sich hier, wo Sterne traditionell mit Stars assoziiert werden, freilich Christmas Avenue nennt. Der Boden war mit elastisch nachfederndem Rindenmull bestreut, die teilweise mannshohen Dekorationsobjekte waren in altrosafarbende Glanzfolie gehüllt worden. Das Niveau der sogenannten Speisen und Getränke war vergleichsweise gehoben. Es gab beispielsweise eine Hirschbratwurst mit beschwipsten Preiselbeeren», die mich potentiell interessiert hätte, aber ich wollte doch weiter zur Gänsewurst. Auf den Lebkuchenherzen, die mir vergleichsweise winzig erscheinen wollten, stand in Zuckerschrift «Sexi». Keinerlei Sicherheitsvorkehrungen im Umkreis des Marktgeschehens übrigens. 

Im Einstein kam ich genau zur rechten Zeit durch die Tür: Es war zehn vor drei am Nachmittag. Die Tageskarte gilt dort nämlich bloss bis um drei. «Alles gut», sagte die Kellnerin, die vermutlich aus Korea stammte. Ich gab meine Bestellung auf und sie rannte. Ich schaute mich um: Und wer sass dort am grossen Fenster zum Garten und redete agitiert auf sein Gegenüber ein? Fabian Hinrichs. Er war es wirklich.