30.7.

Nachbarschaft ist etwas Schönes – prinzipiell kann es das werden. Bis zum letzten Jahr hatte ich lange Zeit keine Erfahrungen mehr gemacht mit Nachbarschaft, weil ich jahrelang nie lange genug an einem Ort sesshaft geblieben war, um mich irgendwem dort in meiner aktuellen Umgebung verpflichtet fühlen zu können (oder zu müssen). Dann kam das Ende des Monats Juli 2015. Damit begann in der Außenwelt das Jahr der Megakrise, das nach der Einschätzung Angela Merkels auch noch nach Ablauf einer bis dahin üblichen, der konservativen Zeitrechnung zufolge, zu Ende sein wird.

»Ein Jahr wie 2015 wird es definitiv nicht mehr geben« – und das war ja nicht tröstlich, im Sinne eines Wunsches nach Wiedergutmachung gemeint, sondern aufs glatte Gegenteil bezogen im Sinne eines »say goodbye to yesterday«.

In meiner Innenwelt hatte sich damals ungefähr zeitgleich das glatte Gegenteil ereignet. Die Wiederzusammenfügung meiner Gefühlswelt, das Gegenteil zur Apokalypse. Ich wusste aber, dass es ein Prozess werden würde. Ich wusste, dass ich zweierlei brauchte (und das eine war Struktur).

So ist die Idee zu dem Tagebuch entstanden, auch weil ich wusste, dass ich den Zeitdruck brauche und die unerbittliche Forderung an jeden Morgen, etwas zu schreiben, was meinen Anforderungen genügt, weil ich die tägliche Arbeit in der Redaktion ja nicht mehr hatte, aber vermisste (weil sie in einer solchen Situation ja auch stützend wirkt). Dann habe ich kurz nach Anfang des physischen Jahres 2016 dieses um weitere Monate hinaus verlängert (bis zum 16. April 2017), weil die Tagebuchaufzeichnungen in meiner inneren Wahrnehmung ja schon um etwa genau so viele Einträge früher begonnen hatten, und ich dem auch für die Öffentlichkeit Rechnung tragen wollte.

Jetzt ist das gerade so, dass ich nicht mehr genau weiß, wie ich das schaffen soll. Aber andererseits. Pflichtgefühl ist etwas Schönes. Es konstituiert erst die Nachbarschaft und als mir Vorgestern aus irgendwelchen Gründen mein Telefon zu Boden krachte und zerbrach (ein kluger Freund stellte einst die gar nicht so unberechtigte Frage: »Wer kommt eigentlich auf die Idee, ein Telefon aus Glas zu konstruieren!«), konnte ich mir für die Zeitdauer der Reparatur in dem kleinen Café gegenüber ein altes iPhone ausborgen, in das meine SIM hineinpasste; dann funktioniert der Rest nach dem Hotelbettenprinzip.

Das war an dem Nachmittag, als die Belegschaft wie ein Rudel aufgeschreckter Blässhühner sich um mich geschart hatte, um mir von einem unsäglichen Vorfall zu erzählen: Nämlich war es wohl so gewesen, dass sich ein älterer Herr (von deren Sorte es hier nicht wenige gibt), an meinen Lieblingstisch gesetzt hatte, um einen Orangensaft auszutrinken. Marco, der dort die Tagesschicht leitet, war nur kurz weg gewesen, um seinen Hund aus dem Kofferraum zu lassen. Und wie er zurück an seinen Arbeitsplatz kommt, sieht er dort an meinem Platz Alexander Gauland im Gespräch mit einer blonden Frau. Nun kam es zu Loyalitätskonflikten, meinem Thema, denn einerseits gilt im Corsini die Regel, so viel Cash wie nur möglich zu machen. Andererseits ist Marco eine Seele von Mensch, Cottbuser, pflichtbewusst, und nun schon seit Wochen von mir politisch indoktriniert. Die Überlegung war wohl tatsächlich, ihm, Gauland, den Orangensaft wieder zu entziehen, ihn zumindest aufzufordern, rasch auszutrinken, denn »einen Nachbarn wie Sie wollen wir hier nicht«.

Alexander Gauland scheint einer, der, um es megatriftig auszudrücken: »Apfelsaft predigt, aber Orangensaft trinkt«. So wie jeder Autor nur die Leser findet, die so sind wie er selbst, finden diese Jungs auch nur die Wähler, die dasselbe wollen: Macht. Es sind die Alten und sich übergangen Fühlenden. Die Jungen, die sich chancenlos wähnen (und es meiner Einschätzung nach auch sind). Die AfD ist somit auch vor allem ein brennendes Problem der deutschen Provinz (innerlich wie äußerlich genommen).

Alexander Gauland hat bestimmt seine Schäfchen im Trockenen, aber so ein zusätzliches Einkommen mit Pensionsansprüchen des deutschen Steuerzahlers wäre willkommen. Im Corsini arbeiten Franzosen, Neuseeländer, Westafrikaner, Briten, Schotten, Esten, Mexikaner. Die Speisekarte hat kein Eisbein, es gibt Hamburger und Salat mit Avocado. Die Weine sind aus Südafrika und aus dem Libanon. Kaum jemand dort, außer Marco, spricht Deutsch. Die Touristen verständigen sich in einem unterhaltsamen Lingo aus Französisch, Handzeichen und Englisch. Das Corsini ist, in einem Teil Berlins, in dem man so etwas nicht erwartet, die wahrgewordene Antithese zu der Behauptung Tyler Brûlés von vor ein paar Jahren in der Wochenendausgabe der Financial Times, dass es sich bei Berlin um die einzige Weltstadt handele, in der auf den Straßen keinerlei Fremdsprachen zu vernehmen seien. Das war so, aber das hat sich seit 2008 mächtig geändert. Und erst seitdem hat Berlin seinen provinziellen Hautgout abstreifen können.

Ein paar Tage zuvor war ich nachts in das kleine Hotel nebenan gekommen, um Zigaretten zu ziehen. Die Nachtkellner hatten mich angeschaut wie beim Abscheiden ertappte Hunde. Das kam daher, dass wir des Öfteren schon über den Button an meiner Jeansjacke diskutiert hatten, auf dem ein Hakenkreuz zu sehen ist, das von einem hineinjagenden, roten Keil gesprengt wird. Die wussten also, wo ich stehe. Aber auf dem Fußboden lagen in jener Nacht wie Konfetti verstreut ausgesprochen schlecht gestaltete Flyer oder Aufkleber in roter Farbe, auf denen zu lesen stand: »Willkommens Diktatur«. Also konfrontierte ich die Mannschaft mit dieser Augenfälligkeit und fragte sie wörtlich: »An wen habt ihr das Hinterzimmer vermietet?«

Die Antwort, verdruckst: »AfD«.

Ja, es stimmt wohl: Ein Jahr wie 2015 wird es wohl wirklich nie wieder geben. Eines wie 2016 aber auch nicht. Und auf meinem Tisch liegt seit Tagen ein Buch, dass ich als Jahresgabe überreichen wollte, das eine Innenwelt der Innenwelt beschreiben sollte. Ich würde gern, bin aber leider zu geschwächt, um dafür den Stift oder das Klebeband zu heben. Es schaut mich an wie eine Kreatur mit all ihren Augen das Offene.