31.12.2018

Ein ewigwährender Adventskalender: 13 Fenster hat die Fassade des Hauses gegenüber. Bis in den August des Jahres 2017 hinein war es leer gestanden, zwar in einem offensichtlich desolate Zustande (in kaum besseren, dafür anderen Tagen war es wohl auch ein Stundenhotel gewesen unter anderem,) doch fragte man sich als Besucher dieses Viertels auch »Wird man dort vielleicht bald einmal wohnen können?«

Dann kam es zu überraschenden Aktivitäten, die Haustüre unter dem kantigen Baldachin aus Aluminiumblechen stand fortan ständig aufgesperrt und von früh auf bis spät in die Nacht wurden aus dem Inneren des Leerstandes sämtliche Eingeweide bishin zu den Toilettenschüsseln herausgezerrt und zu mannshohen Häufen auf das breite Trottoir getürmt. Auch wurden manchmal Baumaterialien angeliefert, sodass ich bald der Meinung war, es würde dort seriös saniert werden. Und meine Erwartungen an eine Wandlung in ein Mietsgebäude wurden durch solche Lieferungen von Gipsplatten und Schlauchpaketen bestärkt. Das ging so weiter, über die Adventszeit und die Weihnachtstage hinweg bis in das nächste Jahr.

Dann aber, ich war eine Weile lang nicht mehr in der Stadt gewesen, schienen die Sanierungsarbeiten auf ungefähr dem ersten Drittel ihrer Strecke ins Stocken geraten; die Fassade war unverändert ihrem tristen Zustand überlassen, die Fenster schlierig, auf dem silbernen Vordach lag nach wie vor der Müll, aber die Türe darunter blieb nun tagsüber geschlossen. Und, das konnte ich durch mein Fernrohr erkennen: hinter den dreizehn Fenstern, nur wenige davon waren von innen mit Lappen oder aufgeschnittenen Müllsäcken verhängt, wohnten jetzt überall Menschen. Ausschließlich Männer. Es waren die Männer, die das Haus im Frühling zunächst entrümpelt hatten, um dann behelfsmäßig Sanitäranlagen einzubauen. Der schier unendliche Sommer des Jahres 2018 hatte da schon begonnen, und an den Aprilabenden, ließen sich die Männer auf den Balkonen zur Straße hin sehen, um sich mit ihren Telefonen zu beschäftigen oder Wäsche zum Trocknen über die Balkongeländer zu hängen.

Woanders als dort—auf den Balkonen und hinter dem Glas der Fenster ihres Hauses—begegnete ich diesen Männern aber nie, auch nicht in dem Kiosk an der Ecke, vor einem der Wasserhäuschen des Viertels, im Bulgarischen Supermarkt oder bei Penny. Immer nur dort, wie in einem Vivarium. Dort immer nur an den Nachmittagen und abends. Vor allem auch kam nie Besuch.

Dann, es war schon Herbst nach dem Kalender, aber die Luft noch immer schön warm, erspähte ich am frühen Abend eine ganze Gruppe von ihnen, wie sie, aus der Richtung des Skyline Plazas kommend, heimwärts zogen. Identisch in signalgelbe Westen gekleidet und mit den weißen Kunststoffhelmen teils noch auf dem Kopfe, andere trugen den ihren unter dem Arm, verschwanden sie im Haus. Kurz darauf gingen in den Zimmern die Lichter an. Die Balkontätigkeiten waren schon seit längerem eingeschränkt, denn auf den meisten türmte sich mittlerweile das, was mir als Müll erscheinen wollte, bis weit über die Brüstung. Bürostühle und Knäuel von Auslegeware, halbe Waschmaschinen, Kartons.

Als es kälter wurde und immer länger dunkler, bekam der Anblick des Hauses etwas bedrückendes. Würden die Männer an Weihnachten nach Hause reisen? Hatten sie eines? Konnten sie sich die Reise dorthin, wohinauchimmer, denn leisten? Offenbar waren das Zeitarbeiter, die an dem gigantischen Wohnturm schafften, der neben dem Skyline Plaza errichtet wurde und einmal so ähnlich heißen würde. Höher als der schöne Messeturm, aber in dem anderen Architekturstil des 21. Jahrhunderts gebaut, also nicht als blockhafte Kästchenarchitektur wie alles Neue in Berlin, sondern in der kaum erträglicheren Weise, die, glaube ich von den sogenannten Graft Architekten und dem ominösen Jürgen Meyer H. populär gemacht wurden, und halt so aussieht, als hätte jemand in irritierender Penibilität lauter Skibrillen aufeinandergestapelt. Die zumeist papierweißen Fassungen der Skibrillen sind dann die mit Glas verschalten Balkons (wobei es ab sechzig Meter über dem Meeresgrund schon heftig windet, also wer will da auf einen Balkon? Aber wer weiß, vielleicht haben auch die vermögenden Wohnungsbesitzer überflüssigen Kram, der dann dort gelagert werden will.

Im Haus gegenüber gingen jedenfalls sogar an Heiligabend wieder alle dreizehn Lichter an. Alleingelassen in der Fremde verbringen Männer ihre freien Tage dann wohl so, dass sie wie an jedem Abend bei Putzlicht auf ihren Betten liegen und sich mit ihren Telefonen beschäftigen. Keine Lichterketten, kein Schneespray an den Scheiben, kein aufblasbarer Santa klettert am frisch lackierten Regenrohr hinauf. Auf den Fenstersimsen kühlen ein paar Flaschen Fanta. Neulich gab es bei einem im dritten Stock anscheinend einen Umtrunk—der auseinandergerissene Karton eines Sechserpacks Becks Alkoholfrei steht jedenfalls noch immer auf seinem Sims.