31.7.2019

Morgens hatten sich im Salle de pas perdus Kameraleute am Kopf von Gleis Sieben geschart, um den Blumenstrausshaufen zu filmen und zu fotografieren. Im Zug selbst war die Klimaanlage segmentweise ausgefallen. Auf der Anzeigetafel ward das nicht angezeigt, dort werden Verspätungen angekündigt oder eine geänderte Reihung der Wagen. Im Sortiment dieser Nachrichtenschilder ist der Ausfall der Klimaanlage (und damit ein Ausfall des Angebots im Speisewagen) nicht vorgesehen. Noch immer nicht, wie ich als Vielfahrer anmerken will; schliesslich passiert es meinem Empfinden nach andauernd (die Zahlen kenne ich freilich nicht).

Der Ausfall des Kühlungssystems betraf auf dieser Fahrt einen weiteren strategisch wichtigen Punkt im Zuge: betroffen waren auch die dem Speisewagen unmittelbar anschliessenden Kleinkindabteile. Damit waren diese aufgrund der dort steigenden Temperatur unbenutzbar geworden. Die dort eingebuchten Eltern mit sehr jungen Kindern wurden auf die übrigen Abteile verteilt. Teilweise mussten schon Sitzende weichen, um zusammenhängende Sitzgruppen freizugeben für die Eltern mit Kind. Und somit stand dann plötzlich ein junger Mann vor mir, hinter ihm, beinahe vollständig durch seinen übertrieben breit trainierten Oberkörper verdeckt, versuchte sich seine Frau vor Scham zu verstecken. Ich war indes ganz woanders gewesen, hatte mich in einem Büchle festgelesen, in dem die Tradition der Frankfurter Würstchen, die ursprünglich Krönungswürstchen genannt wurden, erzählt wurde. Ganz interessant übrigens, denn diese vergleichsweise besonders delikaten Würstchen wurden einst tatsächlich während der Kaiserkrönungen draussen auf dem Römer an das Frankfurter Volk verschenkt, nachdem man sie in einem der auf dem Römer gebratenen Ochsen erwärmt hatte, der, man staune: mit diesen Krönungswürstchen gefüllt ward (man fühlt sich erinnert an das sogenannte Ägyptische Hochzeitsmahl). Von daher musste ich den vor mir Aufgebauten um eine Wiederholung seiner von ihm vorgebrachten Forderung bitten. Er wollte also auf meinem Platz sitzen, nachdem er aus genanntem Grund von seiner Bank vertrieben ward. Dies forderte er allerdings nicht ohne zuvor noch einmal von dem mit Erdbeeren in Gelee belegten Biskuitboden abzubeissen, den er mit beiden Händen vor sich hielt wie einen Wurstwecken. Mir fiel beim Zusammenräumen dazu der Gerüstbauer ein, den ich in der Frühe noch beobachtet hatte vom Balkon aus, und der beim Losschrauben der Schellen mit der Knarre einem am Telefon sich befindlichen Kollegen geraten hatte, ihn nicht mit vollem Munde anzusprechen «Ab 50 Gramm wird‘s undeutlich, gell?»

Eine Dame schräg gegenüber, sie las den neuen Ian McEwan, wies mich auf den freien Sitz neben ihr hin. Von daher verging der Rest der Fahrt wie von allein.

Kurz vor dem Südkreuz allerdings winkte der Muskelpeter den Zugchef zu sich. Er verlangte, dass der ihm auf der Fahrkarte mit Stempel bestätigte, dass die von ihm gebuchte Fahrt im Ruhewagen wegen der Kleinkinder nicht hatte stattfinden können wie geplant. Der Zugchef versuchte ihm geduldig zu erklären, dass menschliche Laute, wie Atmen, Husten und eben auch Kindergebrabbel nicht gegen das Konzept des Ruhewagens verstossen. Er demonstrierte das anhand eines just in diesem Moment losposaunenden Klingeltons eines anderen Fahrgastes: «Dagegen kann ich etwas unternehmen. Aber mit dem Übergang der Deutschen Bundesbahn zur Deutschen Bahn haben wir uns bewusst gegen Regeln entschieden und für Richtlinien.»

Sein Kunde aber beharrte auf seinem guten Recht, das ja, wie Dr. Dr. Rainer Erlinger einst ganz recht feststellte: Selten ein gutes Recht sein wird, wenn jemand behaupten will, es sei sein gutes Recht.

Der Zugchef, mittlerweile hatte der Reklamationsvorgang in spe das Interesse sämtlicher Umsitzenden einfangen können, fragte gutmütig «Sie wollen also wirklich, dass ich ihnen das bestätige, damit sie ihre zweimal 4 Euro 50 für die Platzreservierung zurückfordern können?»

Der Kunde bejahte das und fächerte ihm die Tickets hin.

Der Zugchef daraufhin, noch nicht einmal seufzend: «So, bitteschön. In Halle und in Erfurt sind sie beidesmal ausgestiegen, um auf dem Bahnsteig eine Zigarette zu rauchen. Die Zigarettenkippe haben sie beides Mal nicht in dem bereitgestellten Aschenbecher entsorgt, sondern auf die Gleise unter den Zug geworfen. Hier sind zwei ordnungsgemässe Zahlungsbefehle à 15 Euro wegen den von ihnen begangenen Ordnungswidrigkeiten gegen die Bahnhofsordnungen von Halle und Erfurt. Vielleicht können sie die dann gegenrechnen.»

Der Sitzende fiel in eine Duldungsstarre. Seine Frau flüsterte etwas unter ihrer Schlafbrille hervor. Der Bahnchef hatte ihm die Ehre zerfetzt.