4.1.

Im Himmel hing ganz tief ein Flugzeug, wie an den Wolken festgefroren. Ganz vorn in meiner Reihe hing ein Freak über seinem Textblatt und flüsterte die Lyrics eines mitreißenden Songs, den aber nur er über seine schallisolierten Headphones zu hören bekam. Nervte ein bisschen, war aber okay, weil er, der Freak also, dieses Seinen-Song-üben-müssen vor Antritt der Fahrt ganz artig den Umsitzenden angekündigt hatte. So dann auch mir. Und außerdem saßen wir alle zusammen nicht in einem Ruheabteil, bei dem, so eines hatte ich für die Hinfahrt irrtümlich reserviert gehabt, über den Fenstern ein Fries aufgeklebt ist aus Piktogrammköpfen, die im Profil ausgeschnitten ermahnend die Psst-Geste zeigen. Also durfte der Freak schon vom Prinzip unseres Abteilwagens her leise Geräusche machen. Sogar lautere noch als ein herkömmliches Psst. Wobei sich wahrscheinlich keiner von uns bei der Zusage richtig hatte vorstellen können, wie das dann werden würde mit ihm, dem mitten unter uns im Flüsterton performenden Freak.

Aber hätte man auf eine Probe seines Probierens bestehen dürfen? Seltsam, dass man sich dann mit verquältem Gemüt auf die gemachte Zusage besinnt, und sich unterschwellig den Kontrolleur herbeiwünscht. Dass der dann und final das Proben im Flüsterton untersagt, während er dem Freak das ausgedruckte Onlineticket zwickt – mit seiner Zange noch aus alten Dampfrosstagen. Ihn eventuell, diese Hoffnung schwang bei mir zumindest seidenleicht dahinter fühlbar mit: mit einem oldschool, bundesbahnschaffnerhaft erhobenen Zeigefinger darauf hinweisen könnte, dass »ein ICE kein Probenkeller ist«. Oder ähnliches dergleichen.

Wer Kinder dabei hat, die noch lauter schreien, als der Freak flüstern kann, den lässt das alles kalt. Freilich klingt ein Buchvorlesen aus rätselhaftem Grund auch labsalhafter in meinen Ohren als die im Bühnenflüstern vorgetragenen Refrainzeilen des Freaks, bei dessen Combo, Gruppe, Truppe, Band oder Formation es sich, so war ich mir nach einigen Probedurchläufen seines Songs, der mittlerweile auch schon halb zu unserem geworden war, zu meinem zumindest, so sicher wie das Amen in der Kirche: um eine Rage-Against-The-Machine- oder Marc-Ribot-hafte Formzertrümmerungsinstanz handelte, deren von ihr just selbst zertrümmerte Formrestbrocken umgehend und von ihm, dem Freak vermittels des Refraingesangs zu diesem bombensicheren Ungetüm von einem Monsterlied zusammengeleimt würden, von dessen Konturen ich zumindest während seiner Probe eine konkrete Vorstellung hatte gewinnen können. Das Bilderbuch, das dem unsichtbaren Kinde vorgelesen wurde, blieb mir hingegen schleierhaft.

 »Die sind so arm, dass sie sich nicht einmal Schuhe kaufen können«, erklärte die Großmutter.
Das Kind, empört: »Die sind doch noch klein!«
»Ja, aber die Eltern sind arm. Deshalb haben die Kinder auch kein Geld mehr.«
Dann, rasch ging es zurück aufs klassische Kinderbuchterrain: »Das ist gar kein Vogel, das ist der Fuß von der Hexe!«

Vor dem Fenster hatte sich das malerisch, weil in eine nicht zu hohe, nicht zu flache Hügelkette hinein entstandene Eisenach herausgeputzt, um von mir wahrgenommen zu werden. Ich sah es nämlich zum ersten Mal. Gerade heute, da alles hinter Frankfurt von einer dünnen Schneeschicht bedeckt war, sah Eisenach sehr hübsch aus und auf mich wirkte es dort auch lebenswert. Rasch spielte ich die Jahreszeiten durch, dann fuhr der ICE schon wieder weiter. Erfurt kannte ich schon, hatte mich aber trotzdem darauf gefreut, weil: bloß angenehme Erinnerungen. Auch weil Erik hier so glücklich war und ist. Nach den Heiligen Drei Königen würde ich mich bei Boris Lochthofen melden müssen, um die Sache mit dem Relaunch von Thüringen voranzutreiben. Wahljahr 2017 – wann, wenn nicht jetzt! (»Herrliches Eisenach«/»Märchenhaches Eisenhaft«/»Eisenhaft, hier werden Märchen mit Köpfchen gemacht«—s-trike!)

Nach seinem Schläfchen brach der Mann im gelben Unterhemd, der in der Zeit vor seinem Schlaf noch Freak gewesen war, in Richtung Zugspitze auf, wo er sich offensichtlich einen Wagen weiter, im kleinen Laden des Bordbistrots, dort zwei ganze Plastiktüten hatte vollmachen lassen mit Snacks, von deren Wohlgeschmack und Knusprigkeit er, zumindest klang es jetzt für uns danach, schon in Gedanken schwelgte. Denn beim Vorübergehen mit seinen Tüten machte er mit dem Mund Geräusche wie bei einer Weinprobe, aber halt ohne Wein.

Delitzsch: Der extrem weite (flach sind sie ja alle!) See und ringsum Ödnis war noch nicht einmal ein schwacher Trost für mich, der ich heute um die Kinzigtalsperre geprellt mich finden musste. Dafür reiste ich in einem sogenannten Sprinter schräg durch den Osten hinauf nach Berlin. Nun ja, die alte Route war mir auch lieb. Wenn nicht lieber – immerhin hatte es um Fulda herum noch etwas Schnee gegeben zum Angucken. Jetzt war der weg. Und aus der flach und immer nur noch flacheren, von Pfützen durchsiebten Einöde entstand bald, allzu bald schon The Empire of Siff, Berlin. Aus nackten Bäumen, triefend noch von schwarzem Lack, dahinter Dächer in den Farben unabgeschrubbter Möhren. Noch sah man die Menschen nicht.

Ich kenne gar nicht einmal so wenige Menschen, die hier leben und die sich, wenn sie zutraulich geworden, mir gegenüber mit dem mehr oder weniger gleichlautenden Problem offenbaren: sie können sich hier in Berlin schlecht bis gar nicht konzentrieren. Sind im Grunde nicht arbeitsfähig, beziehungsweise kriegen nur das Nötigste hin. Der Rest ihrer Energie geht fürs Energiesammeln beziehungsweise Regenerieren flöten. Sie, denn zur beinahe unisono klingenden Klage gehört ein gleichwohl oder übel geäußerter Verdacht: Glauben, dass es an den Menschen hier liegt. Das Problem vieler Menschen hier in Berlin wären demnach viele Menschen hier in Berlin. Unlösbar also. Von daher Punkt Punkt Punkt. Gut für die Reiseindustrie. Vermutlich ist deswegen der nichtfertigwerdenwollende Flughafen. Unter anderem. Zeichenhaft! Oder halt auch gerade nicht.

Ganz dunkel ist es erst dort wieder, wo ich aussteigen darf. Dunkel und schwarz, weil hier alles glitschig ist vom kalten Regen, aber deshalb halt auch null Schnee. Dafür ein Wind wie ausgedacht. Gibt es aber nur wenige auf der Erde: Freunde des Windes. Windgourmets, die beispielsweise auf Ferien in Chicago sparen. Der Wetterfrosch im Fernsehen fährt aber genießerisch mit beiden Händen an den langen roten Linien seiner Europakarte rauf und runter, und weist anhand dieser Klimaschründe auf die in den nächsten Tagen drohenden Stürme hin. Man hört es schon. Die ehrwürdigen Mauern des Gemäuers ächzen wie im Hörspiel. Auf dem Weg zum Supermarkt fällt mir Regen ins Gesicht und ich stelle fest, dass es nichts bringt, rechts abzubiegen in den kleinen Park, weil es dort ebenfalls regnet.

Dafür gibt es bei Kaiser’s heute Glückskekse geschenkt, weil von der Silvesteraktion noch ein halber Karton übrig ist.

Auf meinem Papierstreifen steht: »Ein Tag ohne Dich ist wie ein Glückskeks ohne Zettel«. Wenn mein Leben ein Roman wäre, würde ich den Satz – was schade gewesen wäre.