4.6.

Gestern früh gab ich einer spontanen Eingebung nach, was ich auf den Ablauf meiner Tage bezogen so gut wie niemals tue (vermutlich wirkte der Zauber des Easy Rider halt noch nach), kaufte keine Zeitung, bog stattdessen links ab und ging direkt zur S-Bahn, um einen Schönheitstag zu machen. Also mit mir machen zu lassen. Und betrat nach kurzer Fahrt den neuen Salon auf der Potsdamer Straße, den ich im Vorbeispazieren schon einige Male von behaglichen Geräuschen begleitet zur Kenntnis genommen hatte, denn aus irgendwelchen Gründen waren mir die Betreiber, ich glaube, es sind alles Brüder, sympathisch. Außerdem fand ich die Einrichtung gut. Der Salon ist nicht gerade groß, vier Stühle nur, aber für jeden Platz gibt es einen Friseur. Ich sprach den letzten noch untätigen, es war der jüngste der vier Männer, an, ob er mir den Bart etwas in Form bringen würde. Das dauerte dann eine halbe Stunde und er versuchte nicht einmal mit mir ein Gespräch anzufangen, was ich optimal fand und auch dessentwegen sogar zweimal kurz einnicken konnte. Als wir uns das Ergebnis gemeinsam im Spiegel betrachteten, lobte ich ihn sehr. Da sagte er: »Sie haben einen sehr schönen Bart.« Und dann fachsimpelten wir noch etwas über meine diversen, eher strukturell zu nennenden Haarprobleme, während der Mann auf dem übernächsten Stuhl zu seinem Betreuer sagte: »Du siehst jetzt, was mein Problem ist, oder?«, und darauf der »Ja, Mann. Du hast zu große Ohren. Habibi.«

Sechs Euro. Kann eigentlich kaum wahr sein.

Wenige Meter weiter betrat ich den Salon mit dem Logo aus kyrillischen Buchstaben für Tscharodejka, die angeblich »Zauberin« bedeuten. Den Laden gibt es schon so lange, wie ich die Potsdamer Straße kenne. Also so lange wie den Dalmatiner Grill, wie Woolworth und das Varieté Wintergarten, Riekes Rasthof und früher auch mal den Tagesspiegel, aber eben schon viel länger schon als Andreas Murkudis beispielsweise oder den Acne Superstore. Bislang habe ich mich dort auch noch nie herangetraut, weil das Innere allein von den Farben her ziemlich abschreckend wirkt (also Tscharodejka jetzt, nicht Acne oder Murkudis!!!), aber wahrscheinlich hat dieses Buch, mit dem ich mich in den letzten Tagen intensiv beschäftigt hatte, bei mir eine innere Wandlung bewirkt, es erzählt ja aus den letzten Tagen der Siebzigerjahre und: auf einmal saugte es, also mein gewandeltes Inneres (Schachtelwahrnehmung!!!) mich nun geradezu ins Reich der Zauberin hinein. Auch und vor allem, da die dort durchgeführte Pediküre mit »Russische Prozedur – Höchste Qualitätsstufe« angepriesen wird. Es ging auch gleich gut los, weil diese an schambesetzten Körperteilen stattfindende Prozedur in einem Hinterzimmer durchgeführt wurde, während die Manikürekundinnen direkt vor den Schaufenstern zur Straße lagen. Einer der zahlreichen Faktoren, weswegen die Behandlungen in diesem Salon völlig zu Recht als Premium angepriesen werden durften, besteht übrigens in den mit weißem Knautschleder bezogenen Opiumsesseln, die meiner Ansicht nach von dem Hersteller der First-Class-Sitze für Singapore Airlines stammten. Alibihaft griff ich nach meinem Buch, schlief aber sofort ein. Um natürlich mehrmals vor Lachen wieder aufzuwachen, wenn die Zauberin mit ihrem elektrischen Schleifgerät an dieser einen meiner für Kitzelreize ansonsten weniger empfänglichen Zehenwurzeln rührte. Und weil sie halt dieses Ding anhatte, das mich sofort an die Arbeit am Feed der Dicken Bürste erinnerte; und wie oft ich dabei einst »Abb. Emoji: Face With Medical Mask« eingetippt hatte.

Gegen übertriebene Heiterkeit half aber dann sozusagen leider auch ein mir gegenüber plazierter Kunde männlicher Gestalt, der die erste Zeit der über eineinhalb Stunden währenden Prozedur dazu nutzte, in sein iPhone zu schwätzen. Daran störte mich nicht allein, dass es in allerbreitestem Niedersächsisch geschah, sondern dass ich halt aufgrund der Innenarchitektur des Zauberinnenreiches, namentlich der Beschaffenheit des Hinterzimmers, alles mitbekam, was er in seinem zwanzigminütigen Telefonat seinem Liebespartner mitzuteilen hatte. Es war dessen nicht viel. Wurde aufgrund dessen aber extrem variantenarm wiederholt. Dagegen habe ich an sich nichts, wenn es die immerselben Knüller sind, die wiederholt werden. Mache ich ja selbst auch und genau so. Aber a)tens halt nie in Gegenwart anderer. Und b)tens schon gar nicht in einer Sprache (Niedersächsisch), die eine beispielsweise zu meinen Füßen an mir prozedierende Russin nicht versteht, wenn es c)tens in meinem pointenlosen, larmoyanten, megatuckigen auf niedersächsisch vorgetragenen Herrschaftstalk um diese zu meinem Füßen an mir prozedierende Russin, um ihren Körper, um ihre pedikürielle Unbegabtheit geht. Extremer Abfall also dieser Mann, wie Dicke Bürste twittern würde (Abb. Emoji »Put Litter In Its Place«). Ich habs nicht getwittert. Nach einer halben Stunde wurde er nämlich ins Schaufenster bugsiert, wo er sich die Fingernägel schleifen ließ – aber wozu hat der liebe Gott die Freisprecheinrichtung erfunden! Im Hinterzimmer hingegen kehrte göttliche Stille ein. Ab und an ein Glucksen aus dem Cremetöpfchen.

15 Euro. Kann eigentlich kaum wahr sein.