4.6.

Es war ja freilich auch noch Ramadan, weswegen sich die Menschen zäh und langsam durch den warmen Regen vorwärts schoben. In einer Parallelgesellschaft bereitete man sich derweil auf den Wäldchestag vor, der am Dienstag gefeiert wird. Laut Regionalbeilage entstand der Feiertag aus dem kernigen Brauch, dass die Frankfurter Buben dann in die umliegenden Wälder auszuschwärmen hatten, um sich dort Stecken zu schneiden und ihren Lehrern zu überreichen, damit diese sie damit dann im nächsten Schuljahr züchtigen sollten. Die Gläubigen im Ramadan wussten von dieser Tradition vermutlich nichts. Manche kamen von der himmlischen Erfrischungsgabe herausgelockt aus den Call Shops und ihren Bäckereien, um zumindest auf dem feuchten Pflaster vor den Ladenpforten stehend, angetan in papierweißen Hosenanzügen mit den bis oben hin zugeknöpften Blusen ohne Kragenflügel, etwas von der Luftfeuchtigkeit zu inhalieren. Ein Sikh hatte einen Turban derart gelb, dass es auf mich so wirkte, als habe er sich eine ausgehöhlte Honigmelone aufgesetzt.

Wie es im Präludium zu Manhattan, dem Film von Woody Allen heißt: »He idolized it all out of proportion«. Was mir an Frankfurt so gut gefällt, ist, dass man hier auf ganz wenigen Straßen ganz viel unterschiedliche Menschen zu Gesicht bekommt. Frankfurt ist für mich so, wie Gottfried Benn das einmal in Bitterkeit von dem kühlen Bier geschrieben hat, an einem Sommertag, das man sich leider nicht leisten kann. Ja, es ist so, und das ist vermutlich kitschig, na und, dass ich den Eindruck habe, es fehlt dort nichts von der Vielfältigkeit der menschlichen Existenz. Sämtliche Arten: Frauen, Dicke, Alte, Junkies, Kinder natürlich, Gerechte und Ungerechte. Und der Regen fiel, weil er bekanntlich keine andere Wahl hat, auf alle dort, die hier westen und gingen und strebten, vielleicht ans Aufgeben dachten, mal wieder, zwischendurch, oder an diesem Samstagnachmittag zum allerersten Mal.

Auf dem Balkon, später, als es dunkel war und noch immer tröpfelte, kam rings aus dem Hinterhof das Knipsen der Feuerzeuge auf, gedämpfte Telefongespräche, was man halt so macht am Abend. Geschirr. Der Basilikum duftete, es war wie im Frieden, aber dann rief meine Mutter an, ein Grund zur Freude ja eigentlich, aber sie hatte mir eine schreckliche Nachricht zu überbringen. Unsere Verwandschaft, ohnehin nicht weitläufig, war wieder etwas kleiner geworden. Mein jüngster Cousin hatte sich entschieden früher zu gehen. Schon bei der Beerdigung meiner letzten Großmutter war er verhindert gewesen. Nun hatte er es sich erfüllt.

Mir fiel diese wiederkehrende Szene aus Kindertagen ein, wenn wir dort zu Besuch gewesen waren. Erst hatte man gefremdelt, sich dann gelangweilt, irgendwann, viel zu spät, mit dem gemeinsamen Spielen begonnen. Und wenn dann die Eltern die Köpfe ins Spielzimmer der Gastgeber gesteckt hatten, um die Heimfahrt anzukündigen, hatte man aufgeschaut, ganz verwirrt: »Oh man, jetzt schon!«

Ich lese den Teil der Sonntagszeitung über dem »Leben« steht heute zum ersten Mal traurig gestimmt. Weil alles, wovon darin berichtet wird, an guten Tagen freilich langweilig sein kann, oder save for later. Aber nun erscheint mir jeder Satz dort von Wichtigkeit, nichts davon sollte man verpassen wollen. Leben ist wunderschön. Es ist teuer. Und deshalb auch fürchterlich anstrengend oft. Das Schlimmste am Leben an diesem Morgen aber bleibt dies geheime Wissen: that it goes on.