5.5.

In einem späten Gedicht mit dem Titel Das Tagebuch beschreibt Johann Wolfgang von Goethe die erotische Begegnung mit einer Zufallsbekanntschaft. Zeitlebens hat er sich gegen eine Veröffentlichung ausgesprochen, in den ersten Gesamtausgaben des 19. Jahrhunderts war Das Tagebuch darum auch nicht enthalten. Der Meister selbst hingegen hat es in seinem Kreis dennoch wiederholt vorgetragen, es seiner Zuhörerschaft geradezu ans Herz gelegt, so als wollte er damit auf mündliche Überlieferung bauen, wozu das Dichten ja im Grunde erfunden ward. Das obskure Gedicht bekommt damit eine vergleichbare Funktion wie jener nicht erhaltene Artikel aus einer italienischen Tageszeitung aus dem Jahr 1928, den Virginia Woolf in ihrem Kreis immer wieder herumgezeigt haben soll in jenem Jahr, da ihr Roman Orlando erscheinen würde.

Goethes Tagebuch wurde erst Jahrzehnte nach seinem Tod als Privatdruck aufgelegt, angeblich wurden die wenigen Exemplare wiederholt beschlagnahmt. In späteren Druckfassungen wurden insbesondere die beiden Zeilen, in denen von Jesus Christus und Gott die Rede ist, unlesbar gemacht werden. In den Werkausgaben des späten 20. Jahrhunderts ist Das Tagebuch selbstverständlich enthalten, seit Siegfried Unseld es in einem Jubiläumsband des Insel Verlages der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatte. Zusammen mit den Phallischen Hymnen Rainer Maria Rilkes übrigens, der selbst ein Bewunderer des Tagebuchs gewesen sein soll.

Die Forschung hatte sich bald darauf geeinigt, dass im Tagebuch ein Erlebnis männlicher Impotenz geschildert wird. Diese Auslegung ist im Kontext des Wissensstandes über Sexualitäten und Geschlechteridentitäten am Ende des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Kurz gefasst erzählt die Handlung des Gedichtes von einem erzwungenen Aufenthalt des lyrischen Ichs in einem Landgasthof. Eine Wagenpanne verhindert die Weiterfahrt nach Hause, wo die Verlobte ihn erwartet. Ein Zimmermädchen tritt auf und wird als faszinierend beschrieben. Ein Versuch, sich mit dem Schreiben des Tagebuchs abzulenken, missrät. Als das Zimmermädchen erneut die Szene betritt, bedrängt das lyrische Ich diese namenlos bleibende Person, bläst die Kerze aus und sie gibt sich ihm in der Dunkelheit hin. Daraufhin wird es schleierhaft. Die Forschung hat sich vor allem auch darauf konzentriert, mit welchen Worten Johann Wolfgang von Goethe das Geschlechtsteil des lyrischen Ichs benennt: als »Meister Iste«, als »braver Knecht«, »verfluchter Knecht«. Bei Tagesanbruch verschwindet das Zimmermädchen, das lyrische Ich erkennt, dass er nur noch einen Wunsch kennt: heim zur Verlobten, um diese zu heiraten.

In Reading from Behind, den Titel des in diesem Jahr erschienen Buches von Jonathan A. Allen würde ich mit Andersrum Lesen übersetzen, liefert der kanadische Literaturwissenschaftler »A Cultural Analysis of the Anus«. Das bereits mehrfach für seinen Titel und seine Umschlaggestaltung ausgezeichnete Buch ist extrem unterhaltsam, vor allem kann es gerade hinsichtlich eines obskuren Werkes wie dem Tagebuch von Johann Wolfgang von Goethe erhellendes Werkzeug zur Verfügung stellen. Der Text Jonathan A. Allens ist aus einem Artikel für eine Fachzeitschrift der Queer Studies gewachsen, in dem er ebenfalls eine Gedichtanalyse vorgenommen hatte. Da ging es um El Intruso von Delmira Augustini. Hier wird ebenfalls eine Liebesnacht in Versen geschildert, ebenfalls bleibt das lyrische Ich namenlos, sein Partner oder seine Partnerin auch, und Jonathan A. Allen konzentriert sich in seiner Analyse vor allem auf die Zeilen, die ich mit

»Gestern Nacht

Als du mit deinem goldenen Schlüssel

mein Schloss zum Singen gebracht«

übersetze. Jonathan A. allen weist nun darauf hin, dass hier allein aufgrund des Umstandes, dass ein Schlüssel in ein Schloß gesteckt wird, eine phallozentrische Sexualbeziehung konstituiert werden könnte. Und bis ins späte 20. Jahrhundert auch wurde. Zudem singt das Schloß, beziehungsweise wird es zum Singen gebracht. Irgendwie scheint es logisch, davon auszugehen, dass hier das lyrische Ich weiblicher Natur ist, der Schlüssel hingegen und so weiter und so fort. Andersrum gelesen weist aber die Goldenheit des Schlüssels auch auf ein Artefakt hin. Und der Schlüssel zu einem neuen Verständnis der Kulturgeschichte besteht für Jonathan A. Allen im menschlichen Anus, einer Körperöffnung, mit der Frauen wie Männer gleichermaßen ausgestattet sind und die, im Gegensatz zur Mundöffnung, lustempfindlich ist. Mit seinem Plädoyer für den Anus als legitime errogene Zone steht Jonathan A. Allen nicht alleine da. Paul Perciado beschreibt in Testo Junkie seine Liebesbeziehung zu Valérie Despentes als eine ausschließlich aktiv anal penetrierende, aus eben jenem Grund, das heteronormative Zeichensystem der Pornografie umzuschreiben. Stellt man sich in diesem Sinne das lyrische Ich aus dem von Jonathan A. Allen zitierten Gedicht als ein männliches vor, den Schlüssel als goldenen Dildo, seinen Träger als eine weibliche Person, ändert das nichts an der Romantik des Gedichtes. Das Schloß wird so ´rum oder andersrum zum Singen gebracht.

Reading Goethe from Behind, verschwindet das Zimmermädchen, es gab es noch nie. Interessant wird vielmehr die Wahl des Hotels, in der unser lyrisches Ich seine Nacht zu verbringen gedenkt: »So stand ich nun. Der Stern des nächsten Schildes/Berief mich hin, die Wohnung schien erträglich.« Dieser »Stern« könnte als Sinnbild, als ein Anus gelesen werden (das preisgekrönte Umschlagsdesign von Reading from Behind zeigt eben genau dieses: einen »Stern«, der im Kontext mit Titel und Unterzeile als Strichzeichnung eines Anus gelesen wird.)

Tritt dann das Zimmermädchen auf, so fungiert es als heteronormative Figuration der Lust, mit der sich das lyrische Ich konfrontiert sieht. Dann schreibt es das Tagebuch (gesteht sich sein Verlangen ein – Thomas Mann war übrigens ein großer Fan dieses Gedichtes von Goethe), und bläst die Kerze aus. Was es damit macht, bleibt im Dunkeln. Die männliche Forschung hat sich nun ausschließlich auf den braven, bald verfluchten Knecht, den Meister Iste konzentriert. Man fragte sich: Konnte Goethe damals etwa nicht? Dabei weist die verklausulierte Namensgebung eindeutig auf ein Artefakt hin: Meister Das da spricht doch ganz unmissverständlich von einem Gegenstand ex corporale. Zumal er sich, nach der inkriminierten Christus-Halluzination, »von reifer Saat umwogt, vom Rohre fest umschlossen« fühlt. Goethe nahm bei anderen Gelegenheiten, man denke an den Götz von Berlichingen, kein sogenanntes Blatt vor den Mund und war sehr wohl in der Lage, die Dinge beim Namen zu nennen (»Im Arsche lecken«).

Das Schleierige der Sprache im Ausdruck und der Verzicht auf eine Publikation, wo ansonsten alles raus musste, hängen wohl mit dem Goetheschen Gefühl der Unbegreiflichkeit zusammen, seine Anal Lust betreffend. Denn auch davon handelt »Reading from Behind« von Jonathan A. Allen, das macht dieses Buch auch jenseits der Literaturwissenschaft interessant und ich wünsche ihm vor allem viele heteronormativ geprägte Pornogucker als Leser (gleich ob weiblicher oder männlicher Natur): anales Begehren hat nicht automatisch etwas mit Schwulsein oder »davon Schwulwerden« zu tun. Ob Johann Wolfgang von Goethe schwul war oder einfach bloß seiner Zeit voraus wie Virginia Woolf, ist doch scheißegal.