5.7.2020

Die Allgegenwart des Geldes hat in Frankfurt natürlich zu deutlicheren Formen gefunden als irgendwo anders in Deutschland. Die Turmbauten der Banken im Zentrum der Stadt werden als zeichenhaft angeschaut und fotografiert, aber der Reichtum ist hier auch unterhalb des sichtbaren Bereichs überallhin gedrungen wie eine farblose Flüssigkeit. Nie weiß man mit Sicherheit zu sagen, wen man in Wahrheit vor sich hat — in der Wahrheit des Geldes. Zumindest jenseits der Goethestraße, wo die weltweit üblichen Statussymbole gezeigt werden, kann jedermann, dem man in Frankfurt begegnet, ebenso reich sein. Unheimlich. Als Chremismatiker bin ich deshalb vor allem auf der Suche nach den Orten in der Stadt, an denen sich dieser überraschende Reichtum äußern muss.
In dieser Hinsicht geradezu als Zentrum ist die Filiale der Post an der Mainzer Landstraße zu sehen. Ungefähr in dem Maße, wie die Mainzer keine Landstraße ist, handelt es sich dabei nur noch dem Namen nach um eine Post-Stelle, um eine Filiale der Post.  Ein ehemaliges Amt jedenfalls, «Aufgrund der Situation» dürfen dort derzeit wie an vielen anderen Stellen auch nur noch fünf Kunden gleichzeitig in den Schalterraum eintreten, um dort auf ihre Bedienung am Tresen zu warten. Im Vorraum stehen übrigens zwei breit gebaute Geldautomaten der Postbank, die sich bei den Gewerbetreibenden m umliegenden Viertel nicht nur großer Beliebtheit erfreuen, man darf sagen, dass diese Gewerbe ohne diese Geldautomaten überhaupt gar nicht funktionieren könnten. Jedenfalls nicht in ihrer aktuellen Form. Man kann in diese Geldautomaten nämlich Münzen einfüllen. Eimerweise. Es gibt eine trichterförmige Vorrichtung zu diesem Zweck und der Automat zählt in seinem Inneren gleichfalls das hereinrasselnde Münzgeld und schreibt es intern einem Konto bei der Postbank gut. Das auf diesen Konton lagernde Geld kann man wenige Stunden später dann am Schalter wieder abheben gegen Vorlage seiner Bankkarte. Freilich könnte man es auch am Bankautomaten selbst sich herausgeben lassen, aber dieser Service wird lediglich für Beträge bis 1000 Euro angeboten. Gestern, ich wollte Briefmarken kaufen, stand ich dort in der Post am Ende der Warteschlange. Ich war also schon vorgedrungen in den Schalterraum, mit mir die anderen vier. Da kam ein Blinder herein. Man erkannte es daran, dass dort, wo gesunde Menschen schwarze Punkte haben in ihrer Iris, bei ihm eine silbrige Farbe zu erkennen war. Wie bei den Augen von gegartem Fisch. Er schwankte unschlüssig im Raum herum, hatte sich auch schief zugeknöpft und ließ sich von den Umstehenden durch Audiobefehle steuern: «Links, jetzt geradeaus, nein! Mehr rechts —» usw. Man steuerte ihn in meine Richtung, ich gab ihm gerne den Vortritt. Eventuell war er märchenhaft reich. Die Frau am Schalter verdrehte ihre Augen hinter dem Plexiglasschutzschild — gut sichtbar für uns, ihm blieb das freilich verborgen. Wie alles vermutlich. Dabei hatte er weder Blindenabzeichen, noch Hund oder Stab. Er ließ sich, ich stand im empfohlenen Sicherheitheitsabstand direkt hinter ihm und der Kassiererin, seinen Kontostand vorlesen. Knapp über eintausend Euro. Immerhin! Währenddessen blätterte der Kassierer am benachbarten Tresenplatz unermüdlich die Scheine aus den von einer Banderole umgebenen Papierziegeln. Ich stand etwas out of earshot, von daher bekam ich die Endsumme nicht deutlich genug mit, aber es waren zwei Ziegel aus Zweihundertern und einer mit den Grünen und einer mit Braunen. Der Kunde, ein junger Mann, wie es ihn im Gallus tausendfach gibt, als würden die auf einer Plantage gezogen, steckte den Zaster in eine Laptophülle aus schwarzem Kunstleder, zog den Reißverschluss zu, verabschiedete sich und hakte sich im Hinausgehen mit seinen enorm aufgepumpten Boxerarmen bei dem Blinden unter, der sich da gerade in Richtung der Glastür zum Vorraum navigieren ließ.
«Komm schon — Komm her! Ich zeige Ihnen den Weg.»