5.8.

Adieu, sagte die Blume. Und so bestieg ich am Abend einen ICE, der verblüffend leer sich zeigte. Beim Nachrechnen der veranschlagten Fahrtzeit erschien es mir kurios, womit denn die beinahe sechs Stunden totgeschlagen werden sollten – das reichte ja bei gewöhnlicher Geschwindigkeit bis weit hinter Frankfurt hinaus. Bloß fuhr dieser Intercity-Express halt tatsächlich nur bis Frankfurt, dorthin aber mit einer spürbar gedrosselten Geschwindigkeit, so als hätten wir Passagiere unser Transportvolumen für den noch jungen August bereits aufgebraucht.

Ich war durch die Dokumentation noch ganz im Geiste Martin Margielas, und so fiel mir beim Auftreten der sogenannten Zugchefin, deren schrille Stimme, wie es mir schien, andauernd aus den unabschaltbaren Bordlautsprechern erscholl, die Verbesserungswürdigkeit ihrer Tracht auf. Ihre Waden, auf denen sie stelzte, dazu müsste sie Pumps angezogen bekommen, die wie aus Sauerkraut geflochten waren; oder aus wirklichem Sauerkraut gemacht. Dazu auf dem glasierten Schweinsköpfchen die traditionelle Ratsherrengarnitur aus einem keck aufgesetzten Tomatenviertel mit einem Petersiliensträußchen daran. Oder, aber das wäre dann eben Jean-Paul Gaultier, mit einer trillerpfeifenförmigen Kappe aus Silber (die Schnute als Schild). Ganz gut eigentlich, dass es Berufe gibt, in denen Menschen ihre sadistischen Neigungen zum Beruf machen können: Nach ungefähr zwei Stunden hatte unser Zug Stendal erreicht, um dort an einem verwaisten Bahnsteig für zwanzig Minuten zu verschnaufen. »Zu ihrer eigenen Sicherheit«, so die Stimme der Stelzenden aus dem System, »bleiben die Türen während unseres Aufenthaltes verschlossen.«

Ich las das Buch von Flake, dem Tastenficker von Rammstein, das im S.Fischer-Verlag erscheinen wird. In diesem Text beschreibt er auf dreihundert Seiten einen Auftritt seiner Band in Budapest, sehr detailliert. Seine Beschreibung geht von Song zu Song bis zur letzten Zugabe und es ist von daher vor allem eine extrem detaillierte Beschreibung lebensgefährlicher Experimente in Sachen Pyrotechnik, wie es sie meines Wissens nach noch nicht gegeben hat in der Literaturgeschichte. Von daher ein wichtiges Dokument.

Kurz vor Mitternacht kamen die Türme ins Bild. Und ein beinahe voller Mond leuchtete. Der Aufzug, das hat jetzt neun Monate gedauert, ist repariert und ich betrat so mit zum ersten Mal die Kabine, die bislang versperrt geblieben war mit einem Schild, auf dem die Hausverwaltung die Mieter in unmissverständlichem Ton dazu aufgerufen hatte, von telefonischen Nachfragen »abzusehen«. Die Wände des fahrenden Zimmers sind in einem vergilbendem Weiß lackiert. Dicht an dicht sind dort in die Lackschicht mit Schlüsselecken, Bowiemesserspitzen, teils auch Fingerspitzen, größtenteils unverständliche Botschaften eingraviert – very Margiela. Die einzig sichtbare Verbesserung, neben dem für Fahrstühle nicht unwesentlichen Fakt, dass der nun wieder auf und nieder fährt, ist ein in qualligem Blau leuchtendes Display. Auch diese Idee könnte freilich von Martin Margiela sein.

Am Ende der Dokumentation sagt Axel Keller, ehemals Verkaufsleiter bei MMM, den für mich wesentlichen Satz. Er glaubt auf gar keinen Fall, dass Martin Margiela, wie es heißt, ausgebrannt war. Er glaubt auf gar keinen Fall, dass er die Firma, die seinen Namen trägt, verlassen hat, weil ihm nichts mehr einfiel. Martin ließ seinen Namen zurück wie eine Hülle, für andere darin zu wohnen und damit zu arbeiten, weil »es ihm keine Freude mehr machte, unter den veränderten Arbeitsbedingungen nach dem Verkauf der Firma dort weiterhin kreativ zu sein«. Axel Keller erklärt den Move von Martin Margiela damit, dass sich ein Schöpfer seine Arbeit vor allem für sich selbst interessant und unterhaltend gestalten will. Das schließt eine Tätigkeit, die im Funktionieren, im Abliefernmüssen oder -können besteht freilich aus. Es muss ein Spiel bleiben. Das war auch so bei Helmut Lang. Und beide kann ich sie in ihrer finalen Entscheidung sehr gut verstehen.