6.10.

Kaum war ich hier eingetroffen, fing es leider pausenlos zu regnen an. Es kann sein, dass es nachts aufhört, aber da schlafe ich (ohne leider). Aus meinem ursprünglichen Plan (gibts denn andere?), das nicht allzu weit entfernt vom Bogensee gelegene Schulungszentrum der FDJ zu besichtigen, wird wohl nichts werden. Wenn es eins gibt, was ich noch schlimmer finde als nass werden beim Spazierengehen, ist es, nass werden auf dem Fahrrad (das vermeintliche Mittelding: nass schieben ist in Wahrheit noch schlimmer als beides zusammen).

Meine Vermieter hatten mir eine Nachricht hinterlassen: Gestern sollte ich den Mülleimer auf den Feldweg rollern und ihn dort abstellen, allerdings nicht direkt vor dem Gartentor, sondern vor dem des gegenüberliegenden Grundstückes, dabei, so die Mitteilung: »mit den Griffen in Blickrichtung unseres Küchenfensters weisend«. Na ja, dachte ich, kleiner Scherz auf Kosten des unwissenden DDR-Touristen. Aber nicht mit mir!, und ließ den Mülleimer d i r e k t und sinnfälligerweise vor dem Gartentor des Grundstück stehen, auf dessen Gemarkung der in der Tonne enthaltene Abfall produziert worden war. Dann begab ich mich in die dahinter gelegene Küche, um durch besagtes, dem Feldweg zugewandtes Küchenfenster das anstehende Geschehen zu beobachten. Dann kam ein Müllauto und leerte die Tonne des Nachbarn auf der gegenüberliegenden Seite des Feldweges. Die andere auf der anderen Seite ließen die Müllfahrer unangetastet stehen. Ich schritt nicht ein, protestierte auch nicht.

Im Lichte dieses Ereignisses sah ich die Bibliothek meiner Gastgeber in einem anderen Licht. Da ich nun wusste und sozusagen schwarz auf weiß bekommen hatte, dass es sich bei ihrer abstrusen Mülltonnenplazierungsbitte keineswegs um einen Scherz auf meine Kosten gehandelt hatte, sah ich nolens volens ein, dass sie auch mit der Zusammenstellung ihrer wenigen Bücher keine tiefere Absicht verfolgten. Beziehungsweise: dass die nicht allein zu dem Zweck dort aufgestellt waren, mich zu irritieren. Die lasen wohl tatsächlich so:

Bekannte Speisen richtig zubereitet, ein Ratgeber für Gastronomen von Paul Maus und Lutz Kallenbach. Das Buch war 1986 erschienen, dementsprechend fallen die Anleitungen für die Zubereitung von Klassikern wie Nasi Goreng und Pückler-Eis extrem pragmatisch aus. Vor allem hinsichtlich all jener, in den letzten Tagen des Regimes noch schwerer zu beschaffenden Zutaten. Für die Zubereitung der Eiscreme à la Pückler ohne Eismaschine beispielsweise rät das Autorenkollektiv, das Vanillearoma durch »Ananaskonserve« zu substituieren. Die Scheiben selbstverständlich »gewolft«, also durch den Wolf gedreht. Es wird recht viel gewolft in diesem Buch. Auch und insbesondere bei der Zubereitung von Spezialitäten, die mittlerweile, im Jahre 27 nach dem Fall der Mauer, vielleicht zu Recht, vielleicht auch nicht, in Vergessenheit geraten sind. Wie beispielsweise das »Kotelett Pojarski«: Hierfür werden Hühnerbrüste mit »in Trinkvollmilch« (gibts denn andere?) eingeweichten Weißbrotresten und rohen Eiern (essbaren unbedingt!) gewolft und zunächst in Kotelettform geknetet, dann gemehlt und in rohen Eiern gewälzt, bis ein lückenloser Überzug entstanden ist. Dann, schwimmend, in heißem Fett frittieren, nicht ohne zuvor jeweils einen, und zwar speziell den »unteren Flügelknochen« eines Huhnes (idealerweise desjenigen Huhnes, dem die Brust entnommen ward) in die gewolfte und in Ei panierte Masse einzustecken. Denn darin, so das Autorenkollektiv, besteht das Qualitätsmerkmal der bekannten Speise Kotelett Pojarski: im aus dem falschen Kotelett herausragenden echten Knochen. Er macht die heutzutage (ohne leider) in Vergessenheit geratene Speise identitär. Dieses buzz word kommt in dem Kochbuch freilich nicht vor. Wie auch, es wurde ja erst viel später erfunden. Aber hinsichtlich des todsicher unmöglich zu beschaffenden Porterhouse-Steaks – im Berliner Grill Royal wird es derzeit dekadenterweise für 239 Euro zzgl. Beilagen in Form eines »Wagyu on the Bone« verkauft – argumentiert das Autorenkollektiv scharf gegen die nicht identitäre Fleischspezialität trotz oder gerade aufgrund deren geschichtlicher Herleitung als Leibspeise der englischen Hafenarbeiter (das wird ja in der waschechten Dialektik bewusst unklar gehalten): »Das Roastbeef mit Filet und Hochrippe gehört heute zum Bestandteil des Industriegrobsortiments und wird nur nach Absprache in die Gaststätten geliefert, so daß das Porterhouse Steak nicht mehr zum täglichen Angebot gehört. Aus ernährungsphysiologischen und ökonomischen Gründen sollte dieses außergewöhnlich große Steak abgelehnt und nur zu ausgewählten Anlässen auf die Speisekarte gesetzt werden.«

Sehr richtig. Na ja, nun hat sich’s ja erledigt, aber sonst könnte man im Sinne der Autoren dem Regime noch zugerufen haben wollen, dabei den berühmten Einbildwitz von Rattelschneck paraphrasierend: »Hey Staat, deine Wirtschaftsordnung ist zu kurz! Die Bedürfnisse des Volkes hängen heraus!«