6.10.

Als der Sturm nach Moabit kam, begannen die Bäume im kleinen Tiergarten zu tanzen wie die Palmen in diesem Video von Cyprien Gaillard. Ich sah eine Nebelkrähe, das große Tier hatte Probleme, im Wipfel eines der schwankenden Bäume zu landen. Das Naturereignis fing acht Minuten früher an, als von meiner Wetter-App angekündigt. Es hörte aber pünktlich und wie angekündigt um 18 Uhr wieder auf.

Draußen war viel Verkehr. Auf dem Bahnsteig standen ratlos einige Menschen. Die Anzeigetafeln leuchteten in einem seltenen Blau, darauf nur eine einzige Zeile: »Zugverkehr eingestellt«. Ich ging zu Fuß von Bellevue bis zum Stuttgarter Platz. Auf der Kantstraße war ein breiter Teil über alle vier Spuren abgesperrt. Feuerwehrmänner hatten sich um eine junge Akazie versammelt, die schief aus ihrer Verankerung am Trottoir ragte. Ein tröstliches Bild: Feuerwehr kam mit Blaulicht, um an einem Baum noch zu retten, was zu retten war. Überall lagen abgerissene Zweige herum. Überall Laub. Auf den Treppen in der Bahnstation, dort neben dem Eingang zum russischen Supermarkt, campierten mumisch gewandete Frauen mit schlafenden Kindern. Männer, umhergehend, an den Telefonen (vermutlich im Gespräch mit Verwandten in den Außenbezirken). Komisch, wie unterschiedlich Menschen sich von ein und demselben Unglück berichten. Chinesinnen klingen wie zu schnell abgespielte Tonbänder, bei denen ab und an jemand wie wahllos die Pausentaste drückt. Amerikanerinnen und Amerikaner: vor allem laut. Vor allem viel »ich«. Dazwischen viel »like«. Und eine Exil-Österreicherin, die Schwiegermutter, eingefleischte Rotweintrinkerin, die Schneidezähne waren lila verfärbt, nippte heimlich von allen drei Schnapsgläsern ihrer Lieben, während Mann, Sohn und Schwiegertochter draußen vor der Tür eine rauchen waren. Schaute mich kurz an aus ihren verhutzelten Augen. Schuldbewusst.

Später dann mit dem Taxi über die leere AVUS nach Hause. Er nannte mich Großer und Digger, war bester Laune, hatte sehr gute Geschäfte gemacht. Im Dunkeln sah es so aus, als ob hier draußen noch alle Bäume standen. Sind ja auch mehrheitlich schon über hundert Jahre alt. Die meisten hier haben zwei Weltkriege überlebt, gab ich zu bedenken.

Bei Sonnenaufgang alles ruhig, alles grau. See en forme. Im Nachbarsgarten gehen um sieben die Motorsägen an. Aber den Baum konnte ich sowieso noch nie leiden.