6.3.

Freitagnacht kaufte ich beim Umsteigen (ich war aus Neukölln zurück und hatte in der Wilmersdorfer Straße das indianische Mosaik entdeckt) im russischen Supermarkt ein kleines Brot. Der Supermarkt hat an allen Tagen an deren sämtlicher 24 Stunden offen, die Betreiber könnten also auch »Hat immer offen« auf ihre Tüten drucken lassen, sogar ohne »hat« würde das noch verstanden, aber dann wiederum wahrscheinlich auch nicht; jedenfalls scheint diese Zahl 24 dann doch wichtig als Hinweis. Sie zieht die Aufmerksamkeit potentieller Kunden auf sich, die dort selbst noch nicht eingekauft haben, aber in Anbetracht der 24 auf den Tüten von Passanten denken: Aha, der russische Supermarkt hat immer offen – das merke ich mir.

Brot gibt es dort rund um die Uhr, im direkten Vergleich zur benachbarten Fleischpalette ist die Auswahl aber bescheiden bis mono. Diverse Fladenbrotgrößen und Formen mit diversen Körnern bestreut. Mein Brot war anders, es war klein und braun. Außerdem wog es erstaunlich viel in Anbetracht seiner Größe, das versprach bang for the buck. Wie ich zu Hause angelangt dann feststellte, schmeckte es auch noch gut. Und das ist sogar noch untertrieben, ich formuliere hier bereits aus der Perspektive des enttäuschten Liebhabers dieses kleinen Brotes aus dem russischen Supermarkt, das, wie ich beim Auswickeln aus der Plastikfolie noch vor dem Anschneiden feststellen konnte – ich wendete es zu diesem Zweck in meinen Händen hin und her – in einer schmalen Kastenform gebacken worden war, sodass der überquellende Teig die Oberfläche des Brotes zu einer pilzhaften Verbreiterung geformt hatte, die auch nachts noch appetitlich glänzte. Im Anschnitt erinnerte die Krume des Brotes an den mit Kandiszucker bestreuten Honigkuchen, den es in Holland zum Frühstück gibt. Vage ging der Geschmack des russischen Brotes auch in diese Richtung. Also dunkel: ja, aber eben nicht säuerlich wie bei manchen Vollkornbroten, sondern ins eben eher Siruphafte weisend (dies aber ohne ausgesprochen süß zu sein). Extrem schmackhaft. Darüber hinaus handelte es sich um eine Wunderkruste, denn weder die anfängliche Folienumwicklung noch eine Aufbewahrung über das Wochenende konnten der Knusprigkeit dieses von außen klein, von innen undsoweiter Brotes aus dem russischen Supermarkt etwas anhaben. Ich aß, obwohl ich anders drauf war, stets nur wenige Scheiben. Und immer wenn ich von dem Brot gegessen hatte, freute ich mich nach einiger Zeit schon wieder darauf, mir bald wieder etwas mit Brot zubereiten zu können. Es schmeckte halt auch alles auf diesem Brot – ohne leider. Für Honig war es genauso geeignet wie für Fleischwurst. Perfekt zu Eiern. Genial auch nur mit Butter (gesalzener). Oder einfach mal, als mir eine Scheibe daneben ging und zu keilförmig geraten war, um noch mit etwas belegt zu werden: ohne irgendwas drauf, einfach nur ein Brot als Brot.

Ich war sogar schon drauf und dran mein Russlandbild zu korrigieren. Ich dachte, vielleicht hat sich dort etwas Entscheidendes getan, vielleicht gibt es dort einfach auch Orte, an denen es sich aushalten lässt; wo die Russen gut drauf sind und sich am Leben und an Broten wie diesem erfreuen. Da mein persönlicher Vorrat allmählich zur Neige ging, ich aß die vorletzte Scheibe mit Honig und plante den morgigen Einkauf im russischen Supermarkt, der mir mittlerweile schon als Delikatesshimmel à la Butter Lindner erschienen war in meinem vom Brot verblendeten Geist, da biß ich mit voller Wucht und einem von daher auch hässlichen Geräusch auf etwas hartes. Viel härter noch als mein Zahn – jedenfalls fühlte es sich so an. Es war ein Stein. Nichts besonderes, Rollsplit, Stück vom Straßenbelag, etwas in dieser Richtung. Ich versuchte noch, das Brot aufzuessen, aber die Schmerzen waren zu intensiv. Glücklicherweise war mein Zahn nicht zerbrochen, aber der mahnende Schmerz ließ nicht nach. Mir wurde dadurch sehr klar gemacht, wie wichtig der Erhalt meiner Zähne für mein Fortbestehen war. Der Schmerz warnte: Das darf nie wieder geschehen! Bitte in Zukunft Nahrung gründlich untersuchen. Und um mir diese Lektion noch gründlicher einzuprägen, wachte ich heute Nacht alle zwei Stunden auf und fühlte mit der Zungenspitze nach, ob mein lieber Zahn denn noch da war. Er war. Und tat dann auch noch ein bißchen weh. Sanft pulsierend. Vom Aufprall auf den wider Erwarten harten Stein war er tief ins Zahnfleisch gehämmert worden. Er hatte sich, um die Kausalkette aus dualistisch animierter Perspektive wiederzugeben: auf mich verlassen. Ein Zahn hat nun mal keine Augen. Ich war schuld.