6.6.

Im Speisewagen sah ich auf den Hinterkopf eines Mannes im schwarzen T-Shirt, über dessen gesamten Hinterkopf und Hals eine Narbe verlief: diagonal hinter der linken Ohrmuschel beginnend, bis sie, für mich unsichtbar, weil seinen Hals umrundend, vielleicht vorne am Schlüsselbein enden mochte. Vielleicht aber auch nicht? Ich konnte meinen Blick nicht mehr von dieser Narbe abwenden, die auch noch besonders deutlich dadurch hervorstach, dass der Mann sein lockiges Haupthaar in einem sogenannten Undercut frisiert trug, der Bereich am Hinterkopf und um die Ohrmuscheln herum also raspelkurz frisiert war – wodurch war diese Narbe verursacht worden? Ich traute mich weder, ihn anzusprechen, noch traute ich mich, eine Aufnahme zu machen. In meinem Notizbuch fertigte ich mir eine Skizze an, eine Studie des Hinterkopfes, einen Narbenlageplan.

Das war circa acht Minuten nach Wolfsburg, als dieses kleine Dorf entlang der Robinienallee ins Bild gefahren worden war. Und der Himmel war stahlblau, er wirkte wie transparent auf mich, wie diese Folie, die in den Filmen der Augsburger Puppenkiste das Meer darstellen sollte für Seeelefant Seele-Fant und für das Urmel und in der Höhle mit den Edelsteinschätzen: die magische Krabbe. Keine einzige Wolke am Himmel und es war noch nicht einmal Mittagszeit, es würde also noch viel heißer werden. Ganz anders als vorgestern, dem Tag, an dem die Wolken zweifarbig am Himmel hingen. 36grad (2Raumremix). Die meisten Menschen, die ich kenne, finden 2Raumwohnung kindisch. Ich nicht.

Kurz vor Wustermark dann ein Feld aus Klatschmohn. Mir fiel ein, wie Jan, vor vielen Jahren mittlerweile, diese Idee entwickelt hatte für die Szene einer Flucht nach gezogener Notbremse. Und die Kamera zeigt, wie die Frau in ein Feld aus lauter Klatschmohn läuft – weil sie kurze schwarze Haare haben sollte. Das geht jetzt nicht mehr, wegen Frauke Petry. Aber sie verschwände ungefähr dort, am Rande des blaßroten Feldes im tiefen, dunklen Wald.

Dann Heerstraße: endlich die Stadt. Sie wird angekündigt durch sich auftürmende Wolken, die blumenkohlfarben sind. Weil sie aus den Ausdünstungen der Menschen, die hier leben, bestehen. Zwei Stunden Zeit, aus dem Taxifenster auf die grünen Wolken und Ballen zu starren, die hier draußen die Straßen säumen. Und davor das grelle Laub eines Ginkos. Seine Blätter wachsen einer geraden Linie entlang empor.