7.1.

Wenn es dazu nicht so kalt werden müsste: Von den Lichtstimmungen her ist die Winterluft die zweitschönste nach dem Sommerdunst; beide hierbei in der Stunde vor dem Sonnenuntergang, die gestern kein bisschen die Blaue war, sondern klar und hell bis zuletzt. Dass dieser ganze Zauber allein durch die sich langsamer bewegenden Moleküle hervorgerufen wird, ist schwer einzusehen. Selbst der siffigste Feldwegrand macht nun einen ordentlichen Eindruck. Gefroren schaut offenbar alles manierlich aus, selbst Schlamm. Selber stillstehen kann ich nicht, muss mich andauernd bewegen. Inklusive hin- und hergehen, auf der Stelle auf und ab hüpfen et cetera. Geniale Erfindung: Handschuhe. Ich tippe, dass die nach denen für die Füße erfunden worden sind. Sozusagen von den Fußschuhen abgeschaut. Gar nicht einmal ihres Namens wegen. Auf Englisch heißen sie ja unverdächtig eigenständig. Aber andersherum ist die Erfindungsübernahme halt auch allein von der Körperhaltung her doch schwer vorstellbar. Beziehungsweise: Was bedeutete das für das Menschenbild?

Am Savignyplatz kam die Bahn bis zum Westkreuz vier Minuten vor einer, die mich direkt bis nach Hause brächte. Nahm ich erst die bis zum Westkreuz, stieg dort wieder aus und wartete noch immer vier Minuten auf die besagte, wie ich auch am Savignyplatz hätte auf sie warten müssen. Eine Problemverlagerung, wie sie ganz typisch für mich ist. Allerdings war ich kurz, immerhin zwei Haltestellen lang, in einem warmen Zug mitgefahren. Als ich dann in meine endgültig zielführende Bahn einsteigen konnte, fiel es mir zunächst nicht auf; allerdings ging mir das Blättern ungewohnt schwerfällig von der Hand. Dabei hatte ich kurz nur nachschauen wollen, warum Fran Lebowitz womöglich bei der sechsten Folge ihrer Kolumne I Cover The Waterfront das The im Logo des Kolumnenkopfes, bei dem die Buchstaben aus lauter Schattenrissen von den Hochhäusern einer Skyline gezeichnet war, in denen hier und da noch Licht an war (megahübsche Idee!!!), gestrichen und handschriftlich (mit Filzstift, einem sog. Sharpie vermutlich) daraus ein La gemacht hatte, sodass die sechste Kolumne in ihrer noch jungen Serie für Interview I Cover La Waterfront hieß (und in der achten war es dann ein El, also I Cover El Waterfront).

Zuerst fiel mir ein, dass ich meine Fäustlinge anbehalten hatte (ungünstig fürs Blättern), dann, warum (ich die anbehalten hatte): offenbar instinktiv, denn in dem Waggon war es tierisch kalt. Und dementsprechend still. Alle hielten die Luft, so gut es ging, an, weil selbst die ja wärmt von innen. Niemand sprach. Keiner wollte sich die Kälte in Form des Atemhauches vor dem eigenen Gesicht vergegenwärtigen, sonst bräche die kollektive Kältepanik aus. Erst beim Aussteigen sah ich die blauen Zettel in Din A4, die auf den Glasscheiben der automatischen Türen pappten: »Wagen nicht geheizt«. In schwarz auf blau, ich muss doch sehr bitten! Warnhinweise zur Ergreifung der Täter werden doch ansonsten auch nicht in diesen dezenten Farben gehängt. Die Strafgebühren fürs Schwarzfahren von der Farbstellung der Aufkleber her geradezu posaunt. Aber nun gut. Immerhin waren die Hinweiszettel bewusst schräg ins lange Viereck der Fenster geklebt worden, um Aufsehen erregen zu können. Wie jede Putzfrau ja auch immer sämtliche Gegenstände und Möbel diagonal in den Raum dreht, sie hinstellenderweise, ganz gleich wie sie vorher aufgestellt waren, bloß um zu beweisen, dass sie dagewesen ist.

Ein Gutes hatte der Kühltransport: als ich ausgestiegen war, fror ich einfach weiter, anstelle von neuem und schon wieder. Einmal war ich in Sibirien gewesen, weil ich Frank Schirrmacher überzeugt hatte, dass es eine gute Geschichte werden könnte, wenn ich mich zwei Wochen lang der magnetischen Strahlung eines der letzten Magneterzgebirge der Welt aussetzen würde. Und eben dort, in Magnitogorsk war es im November freilich auch tierisch kalt. Also noch tierischer, aber man merkte das nicht. Kalt ist irgendwann, also nach unten hin auf einer Skala gemessen, bloß noch kalt. Es gibt da keinen fühlbaren Unterschied mehr zwischen Minus zehn und Minus dreißig. Jedenfalls konnte ich keinen feststellen. Vielleicht war ich aber auch abgestumpft. Na ja, jedenfalls gab es dort Menschen, also Sibiriaken, Marktfrauen, die standen bei Minus dreißig Grad ohne Schuhe im Schnee herum, um drei Rote Bete zu verkaufen, die sie auf einer Radkappe angeordnet hatten. Ganz barfuß waren sie nicht, ihre Füße, nackt, steckten in Schläuchen aus Filz, die aber vorne offen waren, sodass man, also ich in dem Fall, die nackten Zehen der Marktfrauen sehen konnte. Eventuell eine Art Hybrid aus fingerlosem Handschuh (in den Achtzigern bei Saxophonisten beliebt, heute trägt sie nur noch Karl Lagerfeld) und Sandale. Aber ich will nicht zynisch sein: die Sibiriaken von Magnitogorsk waren schlicht arm. In der Straßenbahn saß man auf einem Blecheimer als Sitz, der war nach oben hin, also zur nichtexistenten Sitzfläche offen, darunter, also darin lagen glühende Kohlen. Die Straßenbahn fuhr sehr langsam. Aber so, nur so kam man zum Stahlwerk, das am Fuße des schon beinahe abgetragenen Magnetberges lag.

Ich war jedenfalls froh, als ich wieder zuhause war.

Der See friert zu. Im kleinen Hafenbecken wächst zungenförmig das Eis bis hinüber zum Steg. Es geschieht von den Rändern her. Am Ufer fängt es also an.