8.1.

Seit dem letzten Update weiß das Betriebssystem des iPads präzise, was mit der Zeitangabe »Nachmittag« gemeint ist. Schreibt mir jemand, was manchmal vorkommt, ob man sich am Nachmittag auf einen Kaffee treffen wolle, schlägt das Programm mittlerweile vor, ein Ereignis am betreffenden Tag um 15 Uhr zu erstellen. Vielleicht auch nur bei mir, vielleicht beginnt auch nur bei mir der Nachmittag um 15 Uhr, weil das Programm alle meine früheren in die Cloud geladenen Kalender auswertet, und ich Verabredungsanfragen, die gemütlich auf Nachmittag hinausliefen, tendenziell mit 15 Uhr bestätigt habe. Und fortan verstärkt noch tun werde, obwohl ich vom Gefühl und von meiner Erziehung her den Nachmittag, wenn schon, um 16 Uhr ansiedele auf dem inneren Ziffernblatt. Gut möglich, dass ich mich in naher Zukunft präzise auf 15 Uhr verabredet fühlen werde, während ich noch immer unbestimmt Nachmittag sage. Dass sich eine scheinbar vage Zeitangabe* mit einem schnöden Zahlenwert füllt.

Es war also kurz nach Nachmittag gestern, da fing es an zu schneien. Und dieses Mal, dem ersten in diesem Jahr, schneite es so, wie es musste: leicht, wie beinahe schwerelos, wiegten sich die Flocken, die groß waren, zu Boden, wo andere bereits lagen, und blieben dort liegen. Ich war kurz vor Nachmittag noch im Städtchen gewesen, zu Fuß, da komme ich sozusagen automatisch durch den kleinen Park am Ufer des Sees an ein paar flachen Stufen aus Stein vorbei, die bis unter die Wasseroberfläche führen. Ich weiß nicht, wozu diese Stufen einst gedient haben mögen. Es gibt diese gartenarchitektonische Laune ja nicht nur am Wannsee, ich war schon an vielen Seen, wo eine Stelle am Ufer treppenhaft abwärts bis an oder sogar unter die Wasseroberfläche führt. Die Vögel sammeln sich dort, sogar die Krähen und Tauben, weil ab und an eine Greisin kommt oder ein Greis, der sie mit Toastbrot füttert. Auf der dem anlappenden Wasser nächstgelegenen, einer mit dem eiskalten Wasser überfluteten Stufe standen dort gestern die Enten. Sie saßen nicht. Offenbar sind die Schwimmfüße noch unempfindlicher gegen den Frost als ihr zusätzlich mit Daunen gepolstertes Unterbauchkleid. Ich habe an der Canal Street mal Entenfüße abgenagt, kann mich aber nicht erinnern, dass der Genuss irgendwie bemerkenswert gewesen war. Neulich auf der Kaiserstraße gab es im Schaufenster des Hot-Pot-Restaurants auch ein kleines Glasgefäß, ähnlich einem Aquarium, voll mit Entenfüßen zum In-die-Suppe-bestellen und dann wieder zum Herausholen und Abnagen. (Kulinarische Archäologie! Neulich las ich bei Ernst Jünger in den Tagebüchern aus den Siebzigerjahren: Da ist er zum Insektenfangen in Brasilien und seiner Frau und ihm wird kurz vor Nachmittag eine Mango serviert. Die damals anscheinend noch komplett unbekannt war in Europa. Noch nicht einmal Ernst Jünger, der Vielgereiste kennt die Frucht; lobt aber den Geschmack der »Mangopflaume«, wie er sie in seinem Eintrag nennt.)

An der Kirche der Baptisten hängt seit dem Herbst schon ein Plakat, das die Ausgabe einer warmen Mahlzeit verkündet: »Jeden Dienstag, von 12 bis 15 Uhr«. Ich musste gleich wieder an den Obdachlosen vor dem Peter-Behrens-Haus denken und an den am Savignyplatz und an den vor dem Bahnhof hier und an die vielen am Bahnhof Zoo. Noch schlimmer als kalt und kein Geld, keine Wohnung ist die Einsamkeit vor aller Augen. Klar, ich habe auch mal Rayuela gelesen und Die Liebenden von Pont Neuf gesehen, aber dass ein Mensch, für den sich die Frage »zu mir« praktisch nicht stellt und der, praktisch gesagt: sich nur selten waschen oder auch nur umziehen kann; der maximal ungesund und unhygienisch lebt, einen anderen Menschen findet, oder von dem gefunden wird: das wäre dann ein Wunder.

Also keine Liebe. Und auch kein Geld, um jemanden zu bezahlen, der andauernd an einen denkt, wie das sonst ganz normal ist, natürlich und selbstverständlich, wenn man geliebt wird. Dem, der ohne Obdach leben muss, ist nichts inbegriffen**. Er schläft ziellos und unbegleitet, er wacht alleine auf. Am See gibt es eine Stufe, die ist komplett von einer Schicht Eis überzogen. Da die untere am Wasser von den Enten besetzt wird, schlidderten auf der Eisfläche die Tauben hin und her. Auf der nächsthöheren wachen die Krähen, die doppelt so groß sind wie die Tauben, allein ihr Schnabel ist gigantisch im Vergleich zum zierlichen Pickinstrument einer Taube. Blässhühner wechseln hüpfend zwischen Entenetage und Krähenpodest. Sie haben die größten Füße von allen hier. Die überfrorene Stufe überspringen sie mit Bedacht.

* Was die Kulturgeschichte zum Thema Nachmittag hergibt, siehe den betreffenden Eintrag in der Wikipedia, der bereits ein paar Anreize bereithält: Stephane Mallarmé, Claude Debussy, Billy Wilder und Éric Rohmer und in Folge derer vor allem Marianne Faithfull (<3), sowie, in Japan, der Kosmos des 夕方.

** In einer der Broschüren aus der hervorragenden Edition des Hauses der Berliner Festspiele gab es die Protokolle eines künstlerischen Arbeit, den Namen des Künstlers habe ich leider vergessen: Er hatte eine Telefonzelle aufgestellt, von der aus jeder umsonst telefonieren konnte, wenn er sich damit einverstanden erklärt hatte, dass der Künstler die Gespräche anonymisiert protokollieren würde. Das Angebot wurde auch von Obdachlosen genutzt, die häufig kein Mobiltelefon besitzen. Ich kann mich beinahe wörtlich an ein Gespräch erinnern, da ruft einer nach Jahren seine Mutter an. Es ist fürchterlich.