8.12.

Fremde Städte lassen sich am schönsten vom Sortiment ihrer Supermärkte her erschließen. Sozusagen in einer Archäologie der Gegenwart, als die einst DJ Shadow seine Methode beschrieben hat. Zugegebenermaßen habe ich damit zunehmend Schwierigkeiten, da sich die Sortimente aneinander angleichen – das Angebot in einem Supermarkt in Manhattan unterscheidet sich nicht mehr groß von dem eines Supermarktes in Berlin (um jetzt nicht eine völlig grotesk an den Haaren herbeigezogene Stadt wie Lima bloß um ihres grotesk an den Haaren Herbeigezogenseins willens zu nennen); allenfalls unterscheiden sich ländliche Supermärkte in der Republik Kongo noch deutlich von denen auf St. Helena, was dann wiederum in beiden Regionen mit der jeweils spezifischen Beschaffungsproblematik zu tun hat (und nicht etwa mit dem theoretisch verfügbaren Angebot, beziehungsweise mit der über das Internet selbst in abgelegensten Regionen geweckten Nachfrage danach).

Hier jedenfalls, in der Frankfurter Innenstadt, gibt es einen diesbezüglich für mich hochinteressanten Supermarkt, weil er, also man dort, die Mangelwirtschaft Bulgariens abbildet. Es ist also eher kein Supermarkt, sondern ein Laden, der keinen in einer für mich lesbaren Schrift dargestellten Namen hat, also - wie ein Frisör ohne Namen in Berlin - als Laden ohne Namen in Frankfurt Erwähnung finden soll. Im Eingangsbereich, wo ansonsten noch in Knisterfolie verpackte Cremetorten gelagert werden, stehen einige wenige Kisten mit Weißkohlköpfen, in grün und rot melierten Paprikaschoten, Gemüsezwiebeln und losen, mit einer erdigen Staubschicht umschlossenen Kartoffeln herum. Dazwischen drei, nicht ineinander geschobene Einkaufswagen. Dann gleich Alkoholika, aber nur wenig. Auch die Auswahl eher lustlos: warmes Bier (die Coca-Cola- und Spriteflaschen werden in einem Kühlschrank mit Werbeleuchtschild von Coca-Cola präsentiert), Pfefferminzlikör (oder Schnaps, ich konnte es nicht lesen, aber die Farbe der Flüssigkeit deutete auf Pfefferminze hin), Wodka (oder etwas ähnlich Klares), sowie der in der DDR unter Schriftstellern und Theaterregisseuren* beliebte, nicht aber begehrte bulgarische Rotwein. Dann noch etwas Wurst, also Dauerware, die selbst für einen extremen Wurstfreund wie mich einen extrem bedauerlichen Eindruck machte (aber jede einzelne davon noch appetitlicher als die angebliche Spezialität in Hessen Ahle Worscht), kaum Käse (und wenn schon mal, dann lag er in Salzlake versunken), viele Süßigkeiten. Etliche Regalmeter blieben leer, um, wie gesagt, die heimische Mangelwirtschaft Bulgariens abzubilden. Ich hatte auf Petersilie gehofft, kaufte dann Liebstöckel, getrocknet, die Tüte zu 39 Cent. Zwar war mir durchaus bewusst, dass die Grüne Sauce größtenteils aus frischen Kräutern zu bestehen hat, aber was sollte ich machen, wenn es nun mal keine gab?

Bei Penny übrigens auch nicht. Obwohl der, Stichwort Archäologie der Gegenwart, lediglich von einer vierspurigen Schnellstraße (Symbol für die Zeit) getrennt auf der anderen Seite ein und desselben Stadtviertels lag, stand, sich befand. Dort, ich müsste es absichtlich verschweigen, um keine politische Aussage zu treffen, aber es war tatsächlich so und trug sich folgendermaßen zu, dass im Supermarktradio eine männliche sirihafte Stimme die den feierabendlichen Alkoholkauf untermalende Muzaq unterbrach, um mit einem »Liebe Pennykunden« anzuheben. Dann fuhr sie fort: »Es ist Weihnachtszeit bei Penny. Um Sie und Ihre Lieben zu verwöhnen, haben wir diese Woche im Angebot das dreilagige Toilettenpapier Happy End mit himmlischem Spekulatiusduft und Weihnachtsbaummotiven«.

Ganz klein, in die Ecke gedrängt vor einem Notausgang, entdeckte ich ein Gebinde billigen Apfelweins in PET-Flaschen. Auf den Etiketten stand in silberner River-Cola-Typo auf weinrotem Grund Stöffsche.

Na gut. In der die beiden Welten verbindenden Gass‘ schaute ich mir dann gerade die Auslag‘ eines extrem dubiosen Ladens an, der gefälschte Telefonkarten, aber auch geklaute Telefone und Computer im Schaufenster hatte, da hielt direkt neben mir und entgegen der legalen Fahrtrichtung dieses Einbahnsträßleins ein Maserati Dueporte mit einem extrem kurzen Frankfurter Nummernschild (F-F 6). Der Fahrer, ein mich um einen Kopf überragender Mann, schaute mich auch an, nachdem ich ihn wohl zu lange bereits angeschaut hatte. Dann machte er eine Kopfbewegung die übrigen Autos am Straßenrand betreffend: »Einbahnstraße oder was?«

»Ja«, sagte ich. »Macht aber nix!«

»Ernsthaft! Seit wann?«

»Seit gestern.«

»Echt!«

»Nein, nein, war nur Spaß. Ist schon eine Weile so.« Und fühlte tatsächlich Erleichterung, als er mich sozusagen vom Haken ließ und beinahe herzlich wurde: »Ändert sich ja dauernd hier, Scheiß.«

*Quelle: Das Leben der Anderen, BRD 2006